M G V Namslau 1863


Als ich dem Verein im April 1914 beitrat, bestanden in Namslau zwei Männergesangvereine" Der Volksmund bezeichnete den einen als den "seidenen" und den anderen als den "halbseidenen". Wegen zu geringer Mitgliederzahl mußte der eine Verein bald seine Pforten schließen.
Unser Verein führte den Namen M G V Namslau 1863.
Der Vorsitzer war Bäckermeister, Herr Julius T i t z e , der trotz mangelnder Gesundheit, trotz Arbeit im Geschäft und in der Stadtvertretung noch Zeit hatte, unser Vereinsschiff mit sicherer Hand durch die schwere Zeit der Kriegs- und Nachkriegsjahre zu lenken. Die Musikalische Leitung hatte Herr Kantor F.Lampel.
Während des 1 .Weltkrieges ist der Chor wohl wenig oder gar nicht an die Öffentlichkeit getreten, da viele seiner Mitglieder an der Front standen. Sofort nach Beendigung des Krieges,, also Anfang 1919, rief Herr Lampel alle Sangesbrüder zu den regelmäßigen Übungen zusammen. Nach kurzer Zeit wurden dem Männerchor ein Frauenchor und ein Orchester angegliedert. Die Leitung des letzteren hatte Herr W. H ö h n e?. Nun entwickelte sich ein reges künstlerisches Leben, das bald die schönsten Früchte tragen sollte.
Bereits im Jahre 1920 wagte sich Herr Lampel an das schwere Oratorium "Das Paradier und die Peri" von Robert Schumann für gemischten Chor, Soli und Orchester, Das Sopransolo sang Frau Luise H i r t h und das Tenorsolo ihr Schüler, der erblindete Herr Stöckel , beide aus Breslau, Es war eine glänzende Aufführung.
Im März des Jahres 1921 sang der Männerchor täglich und an manchen Tagen mehrmals auf dem Bahnsteig des Bahnhofes Lieder zur Begrüßung und zum Abschied der abstimmungsberechtigten Oberschlesier. Immer wieder mußten wir den Chor "Wie's daheim war, wie's daheim war, findst du's nimmermehr!" wiederholen.
Für den Winter 1922 hatte Herr Lampel das reizende romantische Chorwerk "Die schöne Melusine" von Heinrich Hofmann für gemischten Chor, Soli und Orchester vorbereitet. Die Solls wurden von Herrn und Frau A s s m a n n , Breslau, gesungen.
Nach dieser Aufführung legte Herr Lampel den Dirigentenposten nieder, nachdem er den Chor viele Jahre mit unermüdlichem Eifer und großem Erfolge geleitet hatte. Jetzt wurde ich mit der Gesamtleitung betraut. Ich begann sogleich mit den Proben für das Chorwerk "Die Glocke" von Romberg. Die Aufführung erfolgte im Jahre 1924. Frau Elli P y t t e 1 sang die Sopranpartie, Herr Lampel das Tenor- und Herr Arthur Kühne das Bass solo. Das Orchester, das Herr Höhn für alle bisherigen und noch folgenden Aufführungen in aufopfernder Weise außerordentlich gewissenhaft und mit künstlerischem Einfühlungsvermögen einübte, wurde durch einige Breslauer Philharmoniker verstärkt, die am Schlusse der Aufführung noch das reizende Oktett von Mozart spielten, da die "Glocke" nicht abendfüllend ist.
Im Sommer des Jahres 1925 wurde das Gausängerfest des Gaues Oels im Namslauer Stadtpark abgehalten. Es mochten etwa 15 Vereine erschienen sein, die um die Siegespalme stritten Zum Schluß vereinigten sich alle Chöre, etwa 250 Sangesbrüder, unter meiner Stabführung zu einem Massenchoro Der gemütliche Teil wurde abends in sämtlichen Sälen der Stadt gefeiert.
Unser Verein beteiligt sich auch am Gausängerfest Kreuzburg im Jahre I926, zu dem nur Männerchöre geladen waren. Der Namslauer Verein machte eine Ausnahme und brachte auch seinen Frauenchor mit" Während des großen Umzuges durch die Stadt wurden wir öfters gehänselt? "Ihr seid wohl zu schwach, Ihr könnt wohl nichts, daher bringt Ihr Euch die Frauen mit!"
Wir ließen die Spötter reden, Nun traten in einem Saale die einzelnen Chöre auf. Wir Namslauer sangen drei Chöre, einen Männer-, einen Frauen- und' einen gemischten Chor. Der Frauenchor "Zu Lauterbach hab' i mei Schuh verlorn,, ohne Schuh geh' i net ham" gefiel so gut, daß er wiederholt werden mußte. Zum Schluß vereinigte sich unser ganzer Chor zu dem herrlichen "Wach auf" Chor aus Richard Wagners "Meistersingern", der gleichfalls größten Beifall errang. Auch die Spottdrosseln klatschten tüchtig mit. Der Chor der Oppelner Eisenbahnwerkstätten unter Leitung von Herrn Lehrer Bulla war wohl der beste unter den Männerchören,
1927 gedachte der M G V des 100. Todestages von Ludwig van Beethoven mit Sologesängen, Chor - und Klaviervorträgen,
Ein Jahr darauf, 1928, galt es eines andern Meisters der Töne zu gedenken, des liederseeligen Franz Schubert, Herr Th. T h i e n e 1 leitete die sehr schwere aber herrliche Komposition für Männerchor und Orchester "Gesang der Geister über dem Wasser" nach Goethe. Die Feier schloß mit dem Oratorium "Miriams Siegesgesang" für gem. Chor und Orchester. Das Sopransolo sang Fräulein L i e b s c h w a g e r .
Zwischen den ernsten Werken der Klassiker und Romantiker durfte die heitere Muse nicht fehlen, Herr K. G ü n z e 1 hatte die reizende Operette "Winzerliesel" mit viel Liebe und Geschick einstudiert. Die Hauptrollen wurden von Frau H a 1 a n g k und Herrn P a u 1 sicher gespielt und sehr schön gesungen" Die musikalische Leitung hatte in altbewährter Weise Herr W. Höhn" Fünf oder sechsmal mußte das sehr in die Ohren gehende Werk, jedesmal vor ausverkauftem Hause, aufgeführt werden. Während einer Aufführung saß in der ersten Reihe ein älterer bekannter Namslauer, bei einer sehr zu Herzen gehenden Szene zog er sein buntes Taschentuch, um sich die Tränen zu trocknen. Eine neben ihm sitzende Dame tröstete ihn; "Beruhigen Sie sieh,. Herr G., sie kriegen sich gleich!"
Um den Chor noch mehr zu schulen und für später in Aussicht genommene große Werke vorzubereiten, übte der Frauenchor 14 Tage langf jeden Abend von 8-10 Uhr in der Aula. An diesen Singabenden wurde der Chor in der natürlichen Atmung geschult und Stimmbildungsübungen von den tiefsten bis zu den höchsten Tönen vorgenommen, Ein-, zwei-und dreistimmige Volkslieder, insbesondere die reizenden Sätze von Walter Hensel, belebten diese Abende, die mit einem öffentlichen Singen im Saale von Grimm abgeschlossen wurden. Für den Männerchor hatte ich ähnliche Singabende vorgesehen, sie kamen aber leider nicht mehr zur Ausführung,
Der Verein ließ es sich nicht nehmen, von Zeit zu Zeit auswärtige Solisten nach Namslau zu laden. Ich erinnere an den Liederabend von Bruno S a n k e und an das Violinkonzert von Maximilian H e n n i g.
Beide Solisten wurden von Fräulein Arnold in feinsinniger Weise am Flügel begleitet.
Ein sehr kühnes Wagnis war es wohl, als der M G V das Breslauer Philharmonische Orchester (ehemals Schles.Landesorchester genannt) für ein Konzert nach Namslau rief. 48 Mann spielten unter Leitung ihres Dirigenten Hermann B e h r in der Turnhalle besonders ausgesuchte Stücke,
Um dem Verein einmal Gelegenheit zu geben, auch andere Chöre zu hören, durfte er sich im Breslauer Konzerthaus das Oratorium "Die Jahreszeiten" von Joseph Haydn anhören. Das Werk wurde von der Sing-Akademie und den Philharmonikern unter Leitung von Prof. Dr. Georg Dorn aufgeführt.
Unterdessen hatte Herr Kaufmann Willi H a e s 1 e r als Nachfolger des verstorbenen Herrn Titze die Leitung des Vereins übernommen, um ihn mit gleich sicherer Hand durch die nächsten Jahre zu führen.
1930 wurde das bereits früher von Herrn Kantor Lampel aufgeführte Chorwerk "Die schöne Melusine" von H. Hofmann vorbereitet. Die Solis sangen Fräulein Liebschwager, Fräulein Funke aus Eckersdorf, Fräulein Elisabeth Nowak, Herr Kühne und Herr V u g aus Kaulwitz. Der Aufführung wohnte auch der von Herrn Kalkbrenner eingeführte Berliner Kapellmeister Siegfried Schulz bei. Am nächsten Tage erschien im "Namslauer Stadtblatt" ein sehr interessanter Bericht von ihm, der allen Mitwirkenden höchste Anerkennung zollte. Herr Schulz weilte damals mehrere Wochen bei Herrn Haselbach, um eine von diesem komponierte Operette zu instrumentieren. Herr Kantor Birkhahn, den ich um einen Bericht über die Aufführung "Die schöne Melusine" gebeten hatte, veröffentlichte einen Tag später eine ebensolche reizvolle Kritik.
Im gleichen Jahre fuhren alle Aktiven auf Vereinskosten naoh Breslau, um sich im Opernhaus "Die Meistersinger von Nürnberg" von Richard Wagner anzuhören"
Für die Mozartfeier 1931 (175.Geburtsjahr) hatte Herr Höhn das herrliche Klavierkonzert in C-Dur mit seinem Orchester und Fräulein Arnold als Solistin vorbereitet.
Im November 1932 begannen wir mit den Proben des für unsern Verein größten und schwierigsten Werkes, des Oratoriums "Die Schöpfung" von Joseph Haydn, gedacht als 200Jahrfeier des Geburtsjahres des Komponisten. In vielen langwierigen Proben, zum Teil auch Sonntags nachmittags" wurde das Werk gründlich vorbereitet. Generalprobe und Hauptaufführung wurden auf Sonnabend und Sonntag des Monats März 1933 festgelegt. Beide Aufführungen wurden zu einem großen Erfolge für Solisten, Chor und des durch Breslauer Philharmoniker verstärkten Orchesters,
Die Solopartien waren mit Frau Elli P y t t e 1 (Sopran), Herrn Karl Brauner (Tenor) Breslau, und Herrn Arthur Kühne (Baß), besetzt. An der Aufführung waren etwa 120 Mitwirkende beteiligt. Nicht unerwähnt möchte ich lassen, daß ein Sangesbruder aus einem Dorfe des Kreises, ungefähr 6 - 8 km von Namslau entfernt, bei Wind und Wetter alle Proben besucht hatte. Gibt es das heute auch noch?
Um Vergleiche ziehen zu können, hatten wir uns, der Vorstand, einige Sangesbrüder und Sangesschwestern, an einem der vorhergehenden Sonntage "Die Schöpfung" des Oppelner Musikvereins angehört. Die Wagen für diese Fahrt stellten einige Sangesbrüder.
Ich beneide die heutigen Dirigenten, die bei besonderen Aufführungen Tonbandaufnahmen machen können, um dann das betr. Werk allen Mitwirkenden vorzuführen; denn jeder hat schließlich das Bedürfnis, einmal sich selbst oder seinen Chor zu hören. Das wäre ein schöner Lohn für Mühe, Fleiß und Geduld, die zur Erarbeitung eines solchen Werkes erforderlich sind.
Etwas Abwechslung in das übliche Vereinsleben brachten im Sommer Morgenfeiern (Sonntags 6 Uhr morgens) im Stadtpark, Abendkonzerte im Weideschlössel oder im Stadtpark, Ausflüge in eines der Dörfer, das Singen im Kreiskrankenhaus, im Krüppelheim und im Altersheim Bethanien. Letzteres beherbergte übrigens damals eine Berühmtheit, den großen Konzertpianisten Max oder Konrad A n s o r g e .
Große Würdigung fand auch unser Singen bei Trauungen und Beerdigungen der aktiven Mitglieder, Jedes Jahr im November wurde das Stiftungsfest gefeiert und im Januar oder Februar das Faschingsvergnügen in Form eines Kostümfestes, einmal sogar als. Maskenball, der allen wohl? die daran teilnahmen, unvergeßlich geblieben sein wird,
"Wahret das Schöne im Reich der Töne!"
Das war der Leitspruch, unter den ich meine ganze Arbeit im Namslauer Gesangverein gestellt hatte. Viel segensreiche Arbeit, viel Freude und künstlerisches Vergnügen, sehr viel lehrreiche Anregung brachte uns allen, mir und allen Getreuen des Vereins, die Förderung des deutschen Liedes, der deutschen Musik.
Es ist mir unmöglich, alle musikalischen Helfer und Helferinnen, die mir im Vorstande oder als musikalische Mitarbeiter zur Seite standen, mit Namen zu nennen.
Besonders dankbar gedenke ich Männern wie Julius T i t z e und Willi H a e s 1 e r , die als Vereinsvorsitzer und Friedrich L a m p e 1 , Theo T h i e n e 1 und Walter H ö h n , die als Dirigenten, mit Liebe, Begeisterung und Aufopferung für das deutsche Lied erfüllt, unserem Verein mit Treue gedient haben.
Rudolf A s s i g .

Heimatruf Nr.20/1961