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1. Vorboten der Flucht
Von Arthur Kalkbrenner
Im Herbst 1944 fallen Bomben russischer Flugzeuge auf Windisch-Marchwitz. Am 7. Oktober
1944 gegen 19.00 Uhr wird unsere Stadt von sogenannten "Christbäumen"
erleuchtet; Bomben heulen und detonieren. Ein rollender Angriff auf Breslau bis etwa
21.00 Uhr, die Luftschutzsirene heult mehrmals am Tage. Am 8. Oktober amerikanische
Bombengeschwader gegen 11.00 Uhr bei herrlichstem Wintersonnenwetter in direktem Anflug
auf unsere Stadt; keine Abwehr stört sie.
Armes Namslau! denke ich und rase in die Befehlsstelle des Luftschutzes im Keller unter
dem Rathaus. Man merkt allen die innerliche Gespanntheit an. Schweigen! Jeder denkt
wohl: Wer von uns wird überleben? Wie wird's der Familie ergehen? Da die erlösende
Meldung vom Turmbeobachter: "Abdrehung, Richtung Bahnlinie Oberschlesien!"
Da kommen die Batschkadeutschen, Flüchtlinge aus Ungarn, und werden im katholischen
Schulgebäude, bei Schwuntek und in Familien untergebracht. Erstmals sehen unsere
Namslauer Flüchtlingselend; alte und junge Leute, Säuglinge, Kinder und Greise,
Kranke und Gesunde. Und wir erfahren von ihnen von den Gewalttaten der Sowjets und
dem erbarmungslosen Aufbruch aus der Heimat. Verwundert betrachten unsere Leute die
mitgebrachte Habe auf den pferdebespannten Leiterwagen; die Kisten und Kasten, die
Säcke voll Wolle, Dauerwurst und Speckseiten, die "Standen" voll blütenweißen
Schweinefetts und die Spinnräder. Das war möglich, weil in Ungarn die Räumung
planmäßig und rechtzeitig erfolgte.
Als Hausherr des Schulgebäudes tue ich alles, um ihnen ihr Schicksal zu erleichtern.
Für die kleinste Gefälligkeit sind sie dankbar - mit dem wenigen, was sie
haben, wollen sie sich erkenntlich zeigen und können nicht verstehen, wenn man
ablehnt. Es waren z. T. wohlhabende Bauern, Kaufleute, Fabrikanten und einfache, schlichte
Leute, durchdrungen von ihrem durch Jahrhunderte bewahrten Deutschtum.
Es waren liebe Menschen, vom Schicksal geschlagen, doch nicht mutlos, wenn auch ihre
Augen feucht wurden beim Singen der Heimatlieder. Sie beobachteten sehr genau die Vorgänge
in der Stadt und auf den Durchgangsstraßen und wußten sie richtig zu deuten.
Anfang Dezember schon sagte mir ein älterer Mann vertraulich: "Herr Rektor,
bringen Sie Ihre Familie in Sicherheit! Packen Sie das Nötigste griffbereit! Was
ich hier auf diesen Straßen sehe, bei uns fing es auch so an. Hier müssen
wir weg, alle beide!"
Diese Deutschen aus der Batschka haben viele zum Nachdenken über die Lage der
Heimat gebracht. Es gewann der Fluchtgedanke im geheimen doch zunehmend Raum, und Überlegungen,
was mitzunehmen sei, wurden diskutiert. Gnade dem aber, der diese Möglichkeit
öffentlich ausgesprochen hätte oder Pakete größeren Ausmaßes
mit der Post oder Bahn versandt hätte! Die Gauleitung der NSDAP veranlaßte
im November oder Dezember 1944 bei der Kreisleitung Namslau eine Organisationsbesprechung
für eine eventuelle Räumung des Kreisgebietes; die Bevölkerung erfuhr
davon nichts.
Ein Räumungsstab sollte Treckwege und Räumungsetappen festlegen; Landeshut
im Riesengebirge war der Aufnahmekreis. Wie kommt die Stadtbevölkerung weg, und
was geschieht mit den aus dem Westen Deutschlands Evakuierten? "Die Bauern stellen
die Treckwagen!" war die schnelle Lösung. Und was geschieht, wenn die nichtwollen
oder können? "Sie unterstehen den Kriegsgesetzen."
Als die gefahrvolle Lage der rechten Oderseite auch von der Partei nicht mehr längerzu
verheimlichen war, wurden die Luftschutzmaßnahmen mit Hochdruck, u. a. auch durch
den Bau von Splittergräben, betrieben. Im eingeebneten alten Friedhof, der ehemaligen
Ruhestätte vieler alteingesessener und geachteter Namslauer Bürgerfamilien,
baute selbst die Kreisleitung für eventuelle Fälle einen Schutzbunker, der
nach Meinung des damaligen Kreisleiters, eines jungen, ehemaligen Hitlerjugendführers,
bei einem Einfall der Russen bis zum letzten Blutstropfen verteidigt werden sollte.
Alle von Partei und Behörden im stillen eingeleiteten und ins Auge gefaßten
Räumungsmaßnahmen litten darunter, daß sie zu spät kamen und
die Bevölkerung von ihnen und der drohenden Gefahr nicht unterrichtet wurde. Es
fehlte auch an Fachleuten, die in der Organisation solcher Massenbewegungen Erfahrungen
hatten und alles bis in die letzten Folgerungen durchdachten.
Es ist als ein Wunder zu bezeichnen, daß trotz der "Hals-über-Kopf-Räumung"
im harten Winter fast die gesamte Kreisbevölkerung sich dem Zugriff der Russen
entziehen konnte. Dank des heldenmütigen Einsatzes einiger als "verlorener
Haufen" kämpfender, arg gelichteter Wehrmachtsteile, dank des zielbewußten
Eingreifens von Herrn Landrat Dr. Heinrich, dank der Umsicht der Treckführer mit
Bauern, Bauersfrauen, Arbeitern und Arbeiterfrauen, dank der Privatinitiative vieler
unserer Landsleute ist dieses fast unmöglich erscheinende Werk gelungen.
Es ist Dezember! "Werden wir das Weihnachtsfest noch im eigenen Haus mit der Familie
feiern können?" ist die bange Frage, die auf den Gemütern drückend
lastet und die Weihnachtsvorbereitungen freudlos macht. Mehren sich doch die Anzeichen
drohender und zunehmender Gefahr für die Heimat. Wehrmachtsfahrzeuge von Etappeneinheiten
durchfahren immer öfters unsere Stadt in Richtung der Oder; mitunter vollgeladen
mit Wohnungseinrichtungsgut. Ihre Besatzungen machen einen gedrückten Eindruck,
und haben es gewöhnlich sehr eilig, über die Oder zu kommen.
Manche geben den nicht gerade ermutigenden Rat: Macht, daß ihr fortkommt, der
Russe kommt auch hierher! Kölner Evakuierte, in Briefen aus ihrer Heimat beraten
und dazu aufgefordert, packen ihre Koffer und reisen ab.
Aber die Front bleibt ruhig. Wir feiern Weihnachten - zwar nicht mit einem überreichen
Gabentisch, doch mit Karpfen und weißen Würstchen; auch die Gans fehlt in
vielen Familien nicht.
Der Kirchenbesuch, auch von Parteianhängern und uniformierten Arbeitsdienstlern
und Soldaten, war so zahlreich, daß manche mit einem Stehplatz zufrieden sein
mußten. Man besann sich wieder im Angesicht der Gefahr auf die ewigen Werte,
auf das Wort Gottes. Man ging nachher schnell auseinander; vielleicht wollte man vermeiden,
auf das "Was wird?" angesprochen zu werden.
Und dieses unausweichliche "Was wird?" wurde am Jahreswechsel, ja von Tag
zu Tag immer quälender. Aber man "feierte" Silvester in vielen Familien;
auch im Gasthaus, nicht mit lautem Juchhe und Sektkorkenknallerei und Delikatessen.
Da meldete der Rundfunk im Wehrmachtsbericht die Großoffensive der Sowjetarmee
am 12. Januar und den opfervollen Abwehrkampf unserer Truppen. In den nächsten
Tagen wurde - durch die immer verspätete Bekanntgabe der Heeresberichte verschleiert
zugegeben - uns allen offenbar, daß den Russen der Großdurchbruch und die
Zerschlagung ganzer deutscher Armeen gelungen war; die Tür nach Schlesien ihnen
also offenstand, denn nennenswerte Abwehrkräfte - soviel wußten wir auch
- standen nicht in der Heimat zur Verfügung. War doch noch nicht eimal das Heimatersatzheer
alarmiert worden.
Fundstelle: Namslauer Heimatruf Nr.33, S.23 |
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