VII. Mit dem Volkssturm zurück nach Namslau

1. Der Marsch des Volkssturms Namslau9

Von Werner Partheil10

Eines Tages im März 1945 wurde ich, als wir auf unserer Flucht in Schönbach angelangt waren, zum Rathaus bestellt. Mir wurde eröffnet, daß alle voikssturmpflichtigen Männer aus Schlesien sofort dorthin zurückzukehren hätten. Ich folgte dem Befehl und traf am 31. März 1945 in Hirschberg ein. Dort meldete ich mich mit einem Mitreisenden in der Waldersee-Kaserne, einer alten Jägerkaserne in der Stadt. Wir wurden nach der Turnhalle an der Wanderschule verwiesen, wo wir unterkamen. Ein VSt-Offizier, wohl der Bataillonskommandeur, nahm eine oberflächliche Musterung vor. Wir wurden summarisch für tauglich erklärt und je nach Alter in verschiedene Gruppen eingeteilt. Gleich nach Ostern wurden wir in die neuen Kasernen verlegt und erhielten einige Uniformstücke, aber keine Waffen. Es hieß, wir sollten zwei Wochen in Hirschberg ausgebildet werden und dann zum Einsatz bei der Wehrmacht kommen. Am nächsten Tag (5. April) fand im Jägerwäldchen ein Scharfschießen mit Karabiner statt.
Am 6. April erhielten wir Marschbefehle zum Namslauer Volkssturm nach Steinkunzendorf. Am Sonntag, dem 8. April, meldeten wir uns im VSt-Büro, wo wir den Kreisleiter Fischer und Kreisoberinspektor Kruppke antrafen. Der Volkssturm Namslau selbst lag in Peterswaldau, dem längsten Straßendorf, das sich vom Eulengebirge bis in die Ebene nach Reichenbach hinzieht. Nach Einweisung in ein Zimmer ging es ins Niederdorf zu Dr. Brandt und Karl Jäschke (Töpfermeister). Dr. Brandt schrieb uns gleich alle volltauglich für den VSt-Dienst. Dann hatten wir uns im Mitteldorf bei unserem Kompanieführer Kaczmarzyk (Förster) vorzustellen. Der Namslauer Volkssturm bestand aus drei Kompanien, von denen eine in Langenöls, Kreis Strehlen, in unmittelbarer Frontnähe zum Grabenbau lag.


Gleich am zweiten Tag wurden wir in der Kleiderkammer von Vulkaniseurmeister Piontek eingekleidet. Wir bekamen tschechische Uniformen, damit wir uns vom aktiven Volkssturm unterschieden. Mir paßte diese organgegelbe Uniform nicht, und ich bekam eine feldgraue Stiefelhose und eine grüne Polizeijacke.
Im Mitteldorf arbeiteten Schneidermeister Drobek und ein Schuhmacher aus Grüneiche in einer Schneider- und Schusterwerkstatt. Die Waffenmeisterei leiteten Schlossermeister Wende und Mechanikermeister Rokitta. Herr von Willert aus Giesdorf hatte wohl die Aufgabe, sich als Landwirt um das untergestellte Vieh zu kümmern. Kreisleiter Fischer war nur selten zu sehen, er war ständig mit seinem alten DKW unterwegs; sein Adjutant war der letzte HJ-Bannführer von Namslau.


In Wammelwitz lag noch ein kleines Kommando unter Schlossermeister Hermann Aust, das in der dritten Aprilwoche nach Peterswaldau kam. Mit ihm kam auch Lehrer Kabus aus Sterzendorf, der neben meinem Zimmer einquartiert wurde.
Am 11. April erhielt ich den Auftrag, aus Langenöls drei Maschinengewehre abzuholen, an denen wir ausgebildet werden sollten. Es handelte sich um alte MGs aus dem Ersten Weltkrieg. Die Waffenmeisterei mußte für sie hohe Ständer fertigen, damit die MGs zur Fliegerabwehr benutzt werden konnten. Im übrigen war die Bewaffnung des Volkssturms unzureichend. An seinen kriegsmäßigen Einsatz war nicht zu denken.


Am 7. Mai erhielten wir Marschbefehl. Wer Zivilsachen besaß, sollte sie anziehen. Alle vorhandenen Wagen wurden beladen, wohl in der Hauptsache mit den noch in genügender Menge vorhandenen Lebensmitteln. Wir fuhren mit zwei Traktoren- mit je zwei Anhängern - voraus, und etwa 70 bespannte Pferdewagen folgten. Die Tiere stammten alle noch aus Namslau. Auf einen Wagen wurden alle Waffen und einige Kisten Panzerfäuste aufgeladen. In Hausdorf machten wir Quartier.
Am 8. Mai 1945, dem Tag des Kriegsendes, fuhren wir durch Neurode. Am Abend gelangten wir bis Weckelsdorf, wo sich bereits gemischttschechische Bevölkerung bemerkbar machte.


Am 9. Mai gegen 16.00 Uhr gelängten wir über Wernersdorf auf die langsam ansteigende Chaussee nach Trautenau. Plötzlich rief man von hinten: "Rechts ran!" Zu unserem Schrecken sahen wir an der linken Straßenseite russische Militärlastwagen vorbeifahren. Der erste Lkw trug am Kühler ein großes Stalinbild, verziert mit roten Fahnen. Die russischen Soldaten, durchweg Mongolen, riefen uns zu: "Zurück nach Chause!" Wir hielten und warteten. Einige Russen waren abgestiegen und machten sich an uns heran. Auf mich kam ein Mongole zu und schrie: "Uri, uri!" Ich zeigte ihm mein linkes Handgelenk, wo man noch die Striemen vom Uhrarmband sah, und sagte zu ihm: "Kamerad."
Er verstand das richtig, machte eine ärgerliche Handbewegung und ging weiter. Meine Uhr steckte sicher in der Brusttasche meines Uniformrockes, den ich unter meinem zivilen Wintermantel anhatte.


Eine Weiterfahrt ließen die Russen nicht zu. Wir fuhren zurück nach Ober-Wernersdorf.l Auf einer Wiese in Dorf nähe stellten wir die Wagen in Reihen ab. Die Stimmung im Lagor war sehr gedrückt. - Verschiedene Flüchtlinge mit ihren Frauen baten uns, sich unserem Treck anschließen zu dürfen. Uns war das recht, daß eine Anzahl Frauen bei uns war: So konnten wir immer darauf hinweisen, keine militärische Formation, sondern ein ziviler Flüchtlingstreck zu sein. Im zeitigen Frühjahr waren nämlich schlesische Bauern mit ihren Leuten und Fuhrwerken nach den noch nicht besetzten Teilen Schlesiens zurückbeordert worden, um alle verfügbaren Felder zu bestellen. In der Frühe des nächsten Tages, am 10. Mai, Himmelfahrt, musterten die Russen unsere Pferde und nahmen uns die besten weg. Ein anderer Russe erschien mit einigen Ukrainerinnen und verlangte die Pelzmäntel der deutschen Frauen. Eine Wagenkontrolle hatten die Russen nicht vorgenommen, uns aber angewiesen, sofort wieder nach Schlesien zurückzufahren. Wir überschritten die Grenze bei Albendorf und gelangten bis Schömberg.


Seit der Abfahrt von Peterswaldau war mehrfach erklärt worden, der Volkssturm bestehe nicht mehr, wir seien ein Ziviltreck, eine Befehlsgewalt werde nicht mehr ausgeübt. Jeder könne beim Haufen bleiben, aber sich auch absetzen, wovon einige Gebrauch machten.
Wir fuhren nun auf der Straße zurück, auf der wir im Januar auf der Flucht nach Landeshut gekommen waren. Hinter Hartmannsdorf wurde auf einer Waldwiese haltgemacht.


Am 12. Mai fuhren wir unbehelligt über Giesmannsdorf, Altreichenau bis Quolsdorf. Auf der Weiterfahrt sahen wir einige polnische Gespanne, die ihre Wagen mit rot-weißen Fähnchen geschmückt hatten. Auch wir hatten in unserem Zuge einige Kameraden, die einige Streifen rotes Papier am Wagen aufgehängt und auch die Pferde damit bedacht hatten. Die Führung des Trecks hatten inzwischen einige Leute übernommen, die fließend Polnisch sprachen, sich leichter mit den Russen verständigen und sie über uns aufklären konnten. Wir kamen durch Hohenfriedeberg und gelangten in die schlesische Ebene. Am Sonntag, dem 13. Mai, fuhren wir weiter in Richtung Freiburg. Als wir schon ein Stück durch Freiburg gefahren waren, hielten uns die Russen an und verlangten die Hergabe unseres Treckers und des Pkw, auf denen eine Menge unserer Lebensmittel untergebracht waren.


Am Nachmittag des 16. Mai fuhren wir bis Strehlen und wollten durch die Stadt in Richtung Ohlau. Wir wollten natürlich nicht durch die Innenstadt, kamen aber auf der Außenstraße an der russischen Kommandantur vorbei. Kurz dahinter hatten wir den Salat: Russen hielten uns an, und wir mußten auf einer Wiese neben der Straße die, Wagen in drei Reihen auffahren. Am nächsten Morgen (17. Mai) durchsuchten die Russen unsere Wagen ganz gründlich. Alle Koffer mußten geöffnet werden. Wir konnten von Glück reden, daß wir wenigstens dabeisein durften. Es wurde viel geplündert. Ich entging der Durchsuchung, weil ich meinen kleinen Koffer gleich am Morgen unter den Wagen gestellt hatte, wo ihn niemand beachtete.
Bei der Durchsuchung fanden die Russen in einem Wagen zwei Pistolen, in einem anderen zwei Jagdgewehre. Das änderte unsere Lage wesentlich zu unseren Ungunsten. Plötzlich hieß es: "Alle Mann in einer Reihe antreten!" Es wurde eine Leibesvisitation vorgenommen. Dabei fiel den Russen natürlich manch brauchbarer Gegenstand in die Hände. Ich trug meinen Trauring und meine Armbanduhr an zwei Schlaufen innen am Bund der Stiefelhose. Der Russe fuhr mir am Leib herunter, ohne etwas von meinen Sachen zu merken.
Nach der Kontrolle mußten wir am Nachmittag antreten. Wir wurden registriert, wobei sich ergab, daß wir immer noch etwa 150 bis 160 Mann waren. Dann führte man uns in einen mit Maschendraht umgebenen Hühnerauslauf, in den wir eingesperrt wurden. Einige russische Soldaten bewachten den Auslauf. Zwei Söhne von VSt-Kameraden, die etwa 15 Jahre alt waren, wurden nicht eingesperrt; auch die Frauen durften bei den Wagen bleiben. - Ein Russe rief einige Kameraden mit Namen auf. Es waren unsere ehemaligen VSt-Führer, darunter auch Dr. Brandt. Sie rückten am Pfingstsonnabend mit dem russischen Kommando ab und sind in russische Kriegsgefangenschaft gekommen. Ich habe sie nicht mehr wiedergesehen.
Am Zwingereingang stand ein Tisch, an dem ein Russe saß. Jeder von uns mußte dort seinen Tascheninhalt ausleeren und in das Taschentuch einbinden. Der Russe schrieb für jedes Päckchen einen Zettel mit dem Namen des Eigentümers. Die Päckchen wurden in Säcke gesteckt. Ich hatte meine goldene Armbanduhr in einer Streichholzschachtel unter dem Drahtzaun verborgen, ehe ich meine Sachen abliefern ging. Als es Abend wurde, durften uns die Jungen Mäntel und Decken bringen. Ich erwischte eine Kaninchenfellweste, die mir gute Dienste geleistet hat.


Zwei oder drei Tage lagen wir ohne Verpflegung im Hühnerzwinger. Am Pfingstsonnabend rückte das Russenkommando ab. Am Pfingstsonntag (20. Mai) wurden wir aus dem Zwinger herausgelassen. Man gab uns einen Sack mit unseren Sachen, die wir den Kameraden zurückgaben. Einige Kameraden suchten nach den fehlenden Säcken und fanden sie in einem anderen Raum, ausgeleert, durchgesehen und liegengelassen. Alles, was nicht sofort seinem Eigentümer zurückgegeben werden konnte, wurde in eine Decke oder Zeltplane eingeschlagen und mitgenommen. Ich fand meinen Wehrpaß, meine Brieftasche und anderes wieder; nur Feuerzeug, Bleistift und Tintenkuli fehlten.
Nachdem angespannt war, ging die Fahrt in Richtung Breslau weiter. Wir hatten jetzt zwei Polen als Bewacher. Als wir in die Nähe von Breslau kamen, sahen wir vor uns überall Häuserruinen. Später sahen wir, daß außer der erhaltenen Odervorstadt so gut wie die ganze Stadt in Trümmern lag. Man konnte sie nicht wiedererkennen, weil auch die Straßenschilder nicht mehr vorhanden waren. Das erste unbeschädigte Gebäude war das Kloster der Barmherzigen Brüder in der Klosterstraße. Erst hier konnten wir uns orientieren; wir waren auf dem Mauritiusplatz. Weiter fuhren wir in Richtung Kaiserbrücke, die erhalten war. Doch als wir von ihr in Richtung Scheitniger Stern sahen, breitete sich vor uns ein riesiger Platz aus. Man konnte ermessen, daß an dieser Stelle ein ganzer Stadtteil vom Erdboden beseitigt war. Die Lutherkirche, das Staatsarchiv, der Scheitniger Stern, alle Häuser bis zu den Kliniken und der Landwirtschaftlichen Hochschule waren verschwunden.
Wir fuhren durch Wilhelmsruh bis Brockau, ohne angehalten zu werden. Aber in der Nähe des Brockauer Bahnhofs nahmen uns Russen den leichten Kutschwagen mit zwei Pferden weg.
Wir fuhren - wahrscheinlich auf russische Anweisung - nach Carlowitz, wo uns unsere polnischen Begleiter im Zivilgefangenenlager abliefern wollten. Dort nahm man uns aber nicht auf, angeblich weil wir zum Volkssturm gehörten, was wohl die Russen endlich doch herausgekriegt hatten.
Weiter ging es nach Hundsfeld. Auch hier nahm man uns nicht auf, weil wir keine militärische Formation waren, denn wir hatten ja eine Anzahl Frauen mit uns. Wir mußten zurück nach Breslau. Unsere Bewacher waren damit einverstanden, daß wirvon der Hundsfelder Straße in ein Dorf fuhren. Dort fanden wir in einem Sägewerk Unterkunft für die Nacht.
Unsere polnischsprechenden Leute bearbeiteten die drei Begleiter, uns endlich freizugeben und nach Namslau fahren zu lassen. Es kam zu einem Kompromiß: Ein Pole sollte von der russischen Kommandantur in Strehlen für uns einen Marschbefehl nach Namslau holen.


Am Pfingstmontag (21. Mai) mußten wir in die Stadt Breslau zurückfahren. Dort versuchten wir, von der russischen Kommandantur einen Marschbefehl nach Namslau zu erhalten. Während unsere Leute in der Kommandantur verhandelten, die im unbeschädigten Rathaus saß, waren unsere Wagen in der Albrechtstraße nach Richtung Ring aufgefahren. Hier sahen wir aus nächster Nähe die uns erschütternden Zerstörungen der Stadt. Nur die Straßen selbst waren sauber gekehrt. Die Häuserfronten standen noch, die Häuser waren ausgebrannt. Auf der Straße gingen' außer polnischen Milizleuten einige Deutsche zum Gottesdienst in die erhaltene Elisabethkirche. Die Magdalenenkirche war ausgebrannt. Aus den Dachbalken sah ich noch dünnen Rauch aufsteigen. Plötzlich erscholl Chorgesang aus einem wohl noch erhaltenen Nebenschiff der Kirche, und man hörte die Stimme eines Geistlichen. Es war ja der zweite Pfingst-feiertag.
Unsere Leute kamen unverrichteter Sache von der Kommandantur zurück. Wir fuhren weiter über den Ring, vorbei am Rathaus, die Schweidnitzer Straße entlang in Richtung Süden. Wir bogen nach links in die Gartenstraße ein und kamen am zerstörten Hauptbahnhof vorbei. Wir fuhren in ein verlassenes Dorf im Breslauer Süden. Wohl erst hier wurden unsere Wachposten endlich vollends dazu veranlaßt, uns einen Marschbefehl von der Kommandantur in Strehlen zu holen. Am nächsten Tag brachte ihn uns ein Pole.
Dann endlich ging es weiter in den Kreis Ohlau. Nach Aushändigung des Marschbefehls hatte sich unsere Begleitmannschaft von uns getrennt und war nach Strehlen zurückgekehrt. In Seifersdorf machten wir halt. Es wurde nochmals dafür gesorgt, daß alle Sachen, die aus Militärbeständen stammten, weggetan wurden, damit wir beim Oderübergang in Ohlau keine Schwierigkeiten hätten.


Am nächsten Tag (23. Mai) kamen wir schon zeitig in Ohlau an, wurden aber angehalten, weil man zum Überqueren der Oderbrücke einen Passierschein brauchte. Viele Deutsche warteten auf eine Überfahrtgenehmigung. Die steinerne Oderbrücke war von den Deutschen gesprengt worden. Die Russen hatten eine hölzerne Fahrbrücke über die Oder geschlagen.
Während wir also wieder einmal Wagen hinter Wagen auf der rechten Straßenseite standen, hieß es, alle Personen müßten von den Wagen runter. Wir mußten antreten. Ein Teil der Kameraden wurde in Häuser gebracht, wo sie aufräumen mußten. Wir anderen - etwa 20 Mann - mußten eingemietete Kartoffeln verladen. Etwa um 17.00 Uhr waren wir mit dieser Arbeit fertig.


Einige Kameraden waren bei den Wagen geblieben, um diese zu bewachen. Sie erzählten, daß die Russen unser Gepäck durchsucht und alles, was ihnen gefiel, mitgenommen hätten. So waren auch meine durchgelaufenen Damenstiefel, die ich von Namslau mitgenommen hatte, mein silberner Löffel und anderes verschwunden.
Wir konnten noch am selben Abend über die Oderbrücke fahren und übernachteten in Peisterwitz. Am 24. Mai fuhren wir über Bischwitz, Prietzen, Lauban, Kraschen, Damnig, Ellguth bis Namslau.



9 Auszug aus einem unveröffentlichten Bericht. Fundstelle: Heimatarchiv Namslau im Kreisarchiv Euskirchen
10 Amtsgerichtsrat in Namslau