Die blutende Grenze Niederschlesiens |
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Leider ist es wenig bekannt, daß durch den Machtspruch
von Versailles auch Niederschlesiens östlichen Kreisen schwere Wunden geschlagen
wurden. Der niederschlesische Kreis Namslau, früher ein Binnenkreis, von dem russischen
Reiche durch die östlich vorgelagerte Provinz Posen getrennt, ist durch den Verlust
dieser Provinz ein Grenzkreis geworden. Doch auch über die Grenze von Posen hinaus
streckte das neu entstandene Polenreich seine Hand weiter westwärts nach dem Kreise
Namslau aus mit dem unerwarteten Erfolge, daß die alliierten und assoziierten
Mächte es für Recht befanden, ohne Abstimmung und entgegen allen entrüsteten
Protesten der Bevölkerung das zum Kreise Namslau gehörige urdeutsche Reichthaler
Ländchen, umfassend die Stadt Reichthal. neun Landgemeinden und sechs Gutsbezirke
mit zusammen 4590 Einwohnern und einer Fläche von 8482 Hektar, dem Polenreiche
zuzuteilen. Als Ende Juni 1919 bekannt wurde, daß durch Artikel
27.7 des Versailler Vertrages vom 28. Juni 1919 das Schicksal des Reichthaler Ländchens
und fast der Hälfte des Kreises Groß-Wartenberg besiegelt war, wirkte diese
Nachricht in den betroffenen Gebieten wie ein vernichtender Donnerschlag. Wie konnte
eine solche Entscheidung gefällt werden? In dem Entwurf des Friedensdiktates vom
7. Mai 1919 war von einer Abtretung dieser Gebiete keine Rede. Nach der ursprünglichen
Fassung des Artikels 27,7 sollte die Grenze längs der bisherigen Westgrenze von
Posen bis zur Bartsch verlaufen, also die Kreise Namslau und Groß-Wartenberg
unberührt bei Deutschland lassen, allerdings die nördlich der Bartsch gelegenen
Teile von Militsch und Guhrau ebenso wie fast ganz Oberschlesien ohne weiteres zu Polen
schlagen. Es ist bekannt, daß daraufhin in ganz Oberschlesien, in Militsch und
Guhrau ein Sturm der Entrüstung losbrach und auf die feindlichen Machthaber nicht
ohne Eindruck geblieben ist, sodaß die gefährdeten Teile von Militsch und
Guhrau bei Deutschland verblieben und Oberschlesien das Recht der Abstimmung erhielt.
Warum aber auch nicht Reichthal und Groß-Wartenberg? Weil aus diesen Gebieten
keine Proteste eingegangen waren und die deutsche Friedensdelegation in ihren Gegenvorschlägen
vom 29. Mai 1919 diese Gegend nicht erwähnte. Dazu lag auch gar kein Anlaß
vor, da die ursprünglichen Friedensbedingungen Namslau und Groß-Wartenberg,
wie schon oben gesagt, überhaupt nicht berührten. Bis zur Feststellung der
endgültigen Friedensbedingungen ist von polnischer Seite im Stillen eifrig mit
völlig irreführenden Mitteln gearbeitet worden, um Zu de" gründen,
daß die begehrten Teile von Namslau und Groß-Wartenberg polnisches Gebiet
seien. Der Zweck wurde erreicht, indem die Mantelnote der alliierten und assoziierten
Mächte vom 16. Juni 1919 diktatorisch festsetzte: "Infolgedessen erwarten
die verbündeten und assoziierten Mächte von der deutschen Delegation innerhalb
von fünf Tagen, vom Tage der gegenwärtigen Mitteilung gerechnet, eine Erklärung,
die ihnen zu erkennen gibt, daß sie bereit ist, den Vertrag so, wie er heute
ist. zu unterzeichnen. Andernfalls wird der Waffenstillstand beendet werden, und die
verbündeten und assoziierten Mächte werden die Maßnahmen ergreifen,
die sie für notwendig erachten werden, um ihre Bedingungen aufzuerlegen."
- Unter diesen Umständen hatte die deutsche Delegation keine Möglichkeit
mehr, gegen die Losreißung unserer Grenzbezirke zu protestieren. Das Unglaubliche
war unter dem Zwange der Gewalt Ereignis geworden. Das Reichthaler Ländchen ist deutsches Land. Von den
1745 Wahlberechtigten des Reichthaler Ländchens haben sich bei der im November
1919 veranstalteten Probeabstimmung 1927 - 93 Prozent für Deutschland erklärt
und bei der Deutschen National" Versammlung am 19. Januar 1919 von 2227 Wahlberechtigten
sich 1827 - 82 Prozent an der Wahl beteiligt, obwohl der polnische Volksrat für
diese Wahl Wahlenthaltung proklamiert hatte. Durch rauhen Eingriff hat die neue Grenzziehung zerstört,
was in langer Kulturarbeit aufgebaut worden war. Vier durchgehende Kunststraßen
vermittelten im Kreise Namslau den Verkehr nach dem Reichthaler Kreisteil. Sie sind
durch die neue Grenze abgeschnitten. Die Bahnlinie Namslau-Reichthal- Kempen, die früher
einen lebhaften Personen- und Güterverkehr hatte, findet jetzt an der neuen Grenze
ihr Ende. Jenseits der Grenze auf nunmehr polnischem Gebiet sind auf eine lange Strecke
die Schienen aufgerissen und entfernt. Ein Kulturbild aus dem 20. Jahrhundert! Den
Verkehr mit dem Reichthaler Ländchen vermittelt heute auf einer Grenzstrecke von
25 Kilometern ein einziger Grenzübergang, was bei den vielfachen Beziehungen wirtschaftlicher
und verwandtschaftlicher Art zwischen den Ortschaften auf beiden Seiten der neuen Grenze
ein schwer empfundenes Hindernis bedeutet. Die Grenzführung selbst trägt
den natürlichen Zusammenhängen in keiner Weise Rechnung. Besonders widersinnig
ist sie zwischen den Ortschaften Glausche und Reichthal. Ohne auf die Gemeindebezirksgrenzen
Rücksicht zu nehmen, führt die neue Landesgrenze schnurgerade durch die Feldmark
der Gemeinde Glausche hindurch, als habe man beweisen wollen, daß Landesgrenzen
auch mit dem Lineal zu ziehen seien. Einen um so größeren sackartigen Bogen
macht aufallenderweise die Grenze südlich anschließend tief in den Kreis
Namslau hinein, sorgfältig der Grenze der früheren großen preußischen
Staatsdomäne Skorischau folgend, die dadurch ungeschmälert polnischer Staatsbesitz
geworden ist. In gleicher Weise wurden polnischer Staatsbesitz die im Reichthaler Ländchen
gelegenen preußischen Staatsforsten. Durch die erwähnte gradlinige Grenzziehung zwischen Glausche und Reichthal werden 45 landwirtschaftliche Besitzungen quer durchschnitten, deren Bewirtschaftung dadurch aufs schwerste beeinträchtigt wird. Von diesen Besitzungen liegen jetzt 320 Hektar in Polen. Um die in Polen gelegenen Ackerstücke betreten zu dürfen, bedarf es für die Besitzer und deren Arbeitskräfte der ständigen Mitführung besonderer Grenzausweise. Die Besitzer müssen ihre Pferde allmonatlich einer Untersuchung durch den beamteten polnischen Tierarzt unterwerfen. Das Rindvieh bedarf ebenfalls derartiger Untersuchungen. Tritt irgendwo im Kreise Namslau eine Viehseuche auf, so schließt sich automatisch die Grenze. Haben die Besitzer wegen ihrer jenseits der Grenze gelegenen Ackerstücke steuerliche oder sonstige Angelegenheiten in Reichthal zu regeln, so sind sie gezwungen, obwohl Reichthal handgreiflich nahe vor ihnen liegt, den einzigen vorhandenen, weit entfernten Grenzübergang zu benutzen, was für sie einen Umweg von 16 Kilometern bedeutet. Alle diese Umstände lassen die betreffenden Landwirte natürlich nie zur Ruhe kommen und machen eine fachgemäße Wirtschaftsführung schlechterdings unmöglich. Von einschneidendster Bedeutung ist die Zerreißung der Besitzungen auch für deren Kreditverhältnisse. Dadurch, daß ihr Areal zum einen Teil im Inland, zum anderen Teil in Polen liegt, ist ihnen die Grundlage für einen ausreichenden Realkredit genommen. |
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Nicht genug damit, daß das Reichthaler Ländchen
dem polnischen Staate zugeschlagen wurde, glaubte Polen noch auf weitere Teile des
Kreises Namslau Ansprüche erheben zu dürfen. Infolgedessen wurde der Kreis
Namslau von den Interalliierten Mächten als einziger nichtoberschlesischer Kreis
mit 13 Gemeinden und 8 Gutsbezirken von 11485 Hektar Fläche und 5547 Einwohnern
in das oberschlesische Abstimmungsgebiet einbezogen. Wie unberechtigt diese Maßnahme
war, und wie sie auf einer gänzlichen Verkennung der Verhältnisse beruhte,
geht klar daraus hervor, daß bei der Abstimmung am 20. März 1921 nicht weniger
als 97 1/2 % der Abstimmungsberechtigten im Abstimmungsgebiete des Kreises Namslau
trotz des Druckes, unter dem die Abstimmung stand, sich offen für Deutschland
bekannten. Die hart an der neuen Landesgrenze und unmittelbar benachbart dem angeblich
"polnischen" Reichthaler Ländchen liegende Gemeinde Hennersdorf kann
mit Stolz von sich sagen, daß alle Abstimmungsberechtigten der Gemeinde ohne
Ausnahme für Deutschland stimmten. Die Erinnerung hieran soll ein von der Gemeinde
errichteter Denkstein wacherhalten. Ebenso eindeutig deutsch wäre das Bekenntnis
des Reichthaler Ländchens gewesen, hätte man es nicht mundtot gemacht und
abstimmungslos nach Polen verschoben. Durch den Machtspruch von Versailles ist das Reichthaler
Ländchen polnisches Staatsgebiet geworden. Was kulturell und wirtschaftlich zusammengehört,
trennt heute die neue Grenze. Reichthal, früher im Kreise Namslau ein emporstrebendes
wohlhabendes Landstädtchen, verkümmert und stirbt ab. Alte lebensvolle, naturgewiesene
Verkehrsbeziehungen sind gewaltsam zerrissen. Den einzigen "offenen" Grenzübergang,
die alte Namslau-Reichthal-Kempner Straße, sperrt der Schlagbaum an der neuen
Grenze. Alle Geschichtsquellen und erhalten gebliebenen Urkunden
stimmen darin überein, daß der Kreis Namslau in seinem ganzen Umfange, wie
er vor der Zerreißung durch das Versailler Diktat bestand, altes deutsches Kolonistenland
ist, daß insbesondere auch die Ortschaften im Reichthaler Ländchen deutscher
Siedlung ihren Ursprung verdanken, und daß das Reichthaler Ländchen ebenso
wie der übrige Teil des Kreises Namslau durch die Jahrhunderte deutsches Gebiet
geblieben ist, niemals aber dem Polenreiche zugehört hat. Und wenige Gebiete Schlesiens
werden von sich sagen können, daß sie schon so früh dem Deutschen Reiche
zugehörig gewesen sind, wie gerade der Namslauer Bezirk. Polnische Geschichtsschreiber aus dem Mittelalter, unter
ihnen Johann Dlugoß. Domherr von Krakau (gest. 1480), haben den Ort Schmograu
- gelegen im Kreise Namslau, wenige Kilometer entfernt von Reichthal - als die Wiege
des schlesischen Christentums bezeichnet, wo im Jahre 970 die erste Kirche Schlesiens
errichtet sei, und wo in der darauf folgenden Zeit mehrere Jahrzehnte hindurch die
ersten schlesischen Bischöfe ihren Bischofssitz gehabt hätten. Es geht daraus
hervor, daß die Polen im 15. Jahrhundert der Überzeugung waren, daß
die Gegend um Namslau und Reichthal bereits um die Wende des ersten Jahrtausends christlicher
Zeitrechnung zu Schlesien gehört hat. Der Deutsche Orden war es, der an der Kolonisierung des
Namslauer Bezirkes besonderen Anteil hatte. Hermann Ball, Prokurator des Deutschen
Ordens, verlieh 1233 mit Zustimmung des Herzogs Heinrich I. und des Bischofs Thomas
I. von Breslau dem Kaplan Ägidius von Namslau die Gebiete von Lassusino und Bandlo
bei Reichthal zur Besiedlung aus Aussetzung "zu deutschem Recht". Die Chronik
des Bistums Breslau vom Jahre 1305 berichtet bereits über zahlreiche Orte deutscher
Siedlung im Namslauer Bezirke, darunter auch über die Mehrzahl der Orte des Reichthaler
Ländchens, wie Droschkau oder Gerhardsdorf, Skorischau, das der Mittelpunkt der
Verwaltung des bischöflichen Grundbesitzes im Namslauer Bezirke war und als solcher
befestigt wurde, Kreuzendorf, das nach den Kreuzherren vom Deutschen Orden seinen Namen
erhielt und 1249 an den Bischof von Breslau abgetreten wurde, weiter über Bandlau,
Schadegur, Butschkau und Proschau, und zwar "daß sie deutsche Schultheißen
und Pfarrer hatten und vor 1251 zu deutschem Rechte saßen". Aus der ganzen Geschichte von der ältesten Zeit bis
zur Gegenwart erhellt, daß das Reichthaler Ländchen und der gesamte Kreis
Namslau nach Ursprung und Entwicklung deutsches Land sind, und daß Polen in diesem
Kreise nie einen Rechtstitel besessen hat. - Nach der Abtretung des Reichthaler Ländchens an Polen
umfaßt der Kreis Namslau heute ein Gebiet von 50 460 Hektar mit der Kreisstadt
Namslau, 56 Landgemeinden und 45 Gutsbezirken mit insgesamt 31036 Einwohnern. Die Kreisstadt
Namslau ist eine der ältesten germanischen Siedlungen auf schleslschem Boden.
Gegründet wahrscheinlich um das Jahr 1040 während der Zugehörigkeit
Schlesiens zu Böhmen, kommt der an der Handelsstraße von Breslau nach Krakau
gelegene Ort bald zu hoher wirtschaftlicher Blüte und hat sogar vorübergehend
eigenes Münzrecht. Kaiser Karl IV., der wiederholt hier weilte, die günstige
Lage und die Bedeutung der Stadt erkannte, ließ sie stark befestigen. Allen Kämpfen
und Stürmen in dem großen Ringen zwischen Germanen- und Slawentum trotzte
die von ihm errichtete Stadtmauer. Bis auf den heutigen Tag sind ihre Reste, an vielen
Stellen als Doppelmauer, erhalten. Zahlreiche andere alte Bauten legen Zeugnis ab von
der früheren Blüte und Bedeutung der Stadt. So das aus der zweiten Hälfte
des 14. Jahrhunderts stammende Rathaus, dessen in neuester Zeit erfolgter Umbau den
Charakter des herrlichen Bauwerks nicht beeinträchtigt hat, das zusammen mit den
alten Giebelhäusern des Ringes ein reizvolles Städtebild bietet. Als das
schönste Bauwerk der Stadt und zugleich als eine der schönsten Kirchen Schlesiens
darf die in gotischem Stil erbaute katholische Kirche angesprochen weiden, die in der
Zeit von 1400-1450 errichtet wurde. An den Deutschen Orden erinnert das etwa aus dem
Jahre 1360 stammende Stadtschloß, das in späterer Zeit Residenz eines Komturs
war. In der Nähe des Stadtschlosses steht die Ruine des ältesten Bauwerks
der Stadt, des bereits 1285 von Minoriten bewohnten und bis 1810 den Franziskanern
gehörenden Klosters. In.der. Kreisstadt befindet sich eine große Brauerei
und eine Anzahl kleinerer Industrien. Im übrigen hat der Kreis rein landwirt-schaftlichen
Charakter. Es wechseln Ackerbau und Waldbau in bunter Mischung. Auf Acker und Wiesen
entfallen etwa 3/4, auf Waldungen etwa 1/4 der Gesamtfläche. Die Bodenbeschaffenheit
im Kreise ist nicht einheitlich. Neben guten und mittleren Böden, die etwa die
Hälfte der Fläche ausmachen, hat er zur anderen Hälfte geringere, leichte
Böden, die aber bei guter Bewirtschaftung gleichfalls durchaus ertragbringend
sind. Zwar ohne Berge, aber doch mit einigen Erhebungen und im ganzen wellig, bietet
der Kreis, zumal in seinem südlichen Teile, bei dem steten Wechsel von Acker,
Niesen, Gehölzen und Forsten immer neue reizvolle Landschaftsbilder. In diesem
südlichen Teile ist auch in waldreicher Umgebung das Schloß Minkowsky gelegen,
das Friedrich der Große dem Reitergeneral von Seydlitz als Ruhesitz erbauen ließ
als Dank für die dem preußischen Staate geleisteten Dienste. Im Parke des
Schlosses schmückt, beschattet von alten Baumriesen, ein von Efeu überwuchertes
Grabdenkmal die Stelle, wo der alte Reitergenera! zur Ruhe bestattet liegt. Durchflossen wird der Kreis von dem Stober und der Weide,
zwei kleinen zur Oder strebenden Flüßchen, von denen die Weide, mit der
Landschaft des Spreewaldes vergleichbar, bis an die Stadt Namslau heran einen umfangreichen
Bruch.bildet, der nicht nur der Stadt zum Schmucke gereicht, sondern auch einladet
zur Erholung bei Ruderfahrten und sommerlichem Baden. Die Niederungen dieser beiden
Flüßchen, die größtenteils noch der Regulierung harren, leiden
bei dem geringen Gefälle und den vielen Mühlenstauen häufig unter ausgedehnten
Ausuferungen, die der Landeskultur in hohem Maße schädlich sind. An landwirtschaftlichen
Betrieben überwiegt im Kreise Namslau der Großgrundbesitz, der etwa 6l)
Prozent der Fläche umfaßt. Der Rest von 4l0 Prozent verteilt sich auf bäuerliche
Wirtschaften und Kleinbesitz. Es befinden sich im Kreise auch einige größere
Teichwirtschaften, die nach neuzeitlichen Methoden die Fischzucht betreiben, welche
ansehnliche Erträge an Nutzfischen, insbesondere an Karpfen, bringt, die zumeist
als Weihnachtskarpfen den städtischen Märkten zugeführt werden. Durch
ihren Krebsreichtum bekannt war früher mit ihren Zuflüssen die Neide, Leider
haben Seuchen die Krebsbestände fast völlig vernichtet. Schon von Natur benachteiligt durch das wenig günstige
Klima der rechten Oderseite, das auch bei sonst gleichen Bedingungen ähnliche
Bodenerträge, wie sie die Kreise auf der linken Oderseite aufzuweisen haben, nicht
aufkommen läßt, ist der Kreis Namslau auch von jeher durch seine Verkehrslage
in der allgemeinen Entwicklung gehemmt gewesen. Ihm fehlt insbesondere die Eisenbahnverbindung
nach Brieg, die ihn nicht nur auf dem kürzesten Wege mit der Oderwasserstraße
und der Haupteisenbahnstrecke Oberschlesien-Breslau-Berlin, sondern auch mit dem Inneren
von Schlesien und mit dessen Süd- und Westteil in unmittelbare Verbindung bringen
würde. Überhaupt hat die ganze rechte Oderseite, wie ein Blick auf die Karte
erkennen läßt, hinsichtlich der Ausgestaltung des Eisenbahnnetzes eine außerordentlich
stiefmütterliche Behandlung erfahren. Selbst im Vergleich zu den früheren
Provinzen Westpreußen und Posen ist das Eisenbahnnetz in den mittelschlesischen
Kreisen der rechten Oderleite ein höchst dürftiges. In schwerster Weise ist der Kreis Namslau durch den Versiailler
Vertrag verstümmelt und in seiner Entwicklung zurückgeschleudert worden.
Durch die Abtretung des Reichthaler Ländchens sind ihm nahezu 1/6 der Kreisfläche
und etwa ebensoviel an Einwohnern verloren gegangen. Einen großen Teil der Steuerlast
hat der Kreis dadurch eingebüßt. Nicht weniger schlimm sind die allgemeinen
Folgen der neuen Grenzziehung, die ohne Rücksicht auf Verkehrs- und Wirtschaftszusammenhänge
Gebiete zerriß, die von alters her zusammengehörig, wirtschaftlich aufeinander
angewiesen sind und als Absatz- und Bezugsgebiete sich einander ergänzten. Rege Wirtschaftsbeziehungen hatte der Kreis Namslau früher
zur Provinz Posen, mit welcher er durch die Eisenbahnlinie Namslau-Reichthal-Kempen-Ostrowo-Posen
unmittelbar verbunden war. Durch die Abtretung der Provinz Posen ist dem Kreise Namslau
nach Osten das gesamte Hinterland verloren gegangen. Die genannte Bahnlinie läuft
sich jetzt an der neuen Grenze tot. Schwerste Schädigungen hat für den Kreis
Namslau auch die Gestaltung der Verhältnisse in Oberschlesien zur Folge gehabt.
Von jeher war der durch den Versailler Vertrag polnisch gewordene ostoberschlesische
Industriebezirk wegen seiner frachtgünstigen Lage und seiner Aufnahmefähigkeit
das hauptsächlichste Absatzgebiet für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse
des Namslauer Kreises, der umgekehrt auch seinen Bedarf an Kohle und Industrieerzeugnissen
aus ebendiesem Gebiete deckte. Dieses wichtigen Absatz- und Bezugsgebietes ist der
Kreis Namslau durch die neue Grenzziehung verlustig gegangen. Aber auch der Industriebezirk
des bei Deutschland gebliebenen Westoberschlesiens ist dem Kreise Namslau als Absatzgebiet
verloren gegangen durch die Bestimmung des Genfer Abkommens, wonach 15 Jahre lang landwirtschaftliche
Erzeugnisse aus Polnisch-Ostoberschlesien nach Deutsch-Westoberschlesien zollfrei eingeführt
werden dürfen. Der beste Beweis ist die Tatsache, daß die Bahnstrecke Namslau-
Kreuzburg, auf welcher früher fast alle Erzeugnisse des Namslauer Kreises nach
Oberschlesien verfrachtet wurden, von solchen Frachten heute völlig entblößt
ist. Infolge des Verlustes seiner wichtigsten Absatzgebiete
ist der Kreis Namslau gezwungen, sich wirtschaftlich anders zu orientieren. Welche
Schädigungen damit auf Jahre hinaus für seine gesamte Wirtschaft verbunden
fein müssen, leuchtet ohne weiteres ein. Will nicht der Kreis Namslau in seiner
jetzigen isolierten Lage verkümmern, muß er mit allen Mitteln danach trachten,
daß mit größter Beschleunigung der Bau der Eisenbahnlinie Namslau-Brieg
zur Durchführung gelangt, die bereits seit Jahrzehnten erstrebt wurde, heute aber
unter den veränderten Verhältnissen nach dem übereinstimmenden Urteil
aller Wirtschaftskreise geradezu eine Lebensnotwendigkeit für den Kreis Namslau
geworden ist. Wie die Verhältnisse liegen, kann für den Verlust des östlichen
Hinterlandes und den Verlust von Oberschlesien als Absatzgebiet dem Kreise Namslau
ein teilweiser Ausgleich nur dadurch geschaffen werden, daß er durch eine Eisenbahnlinie
mit Brieg verbunden wird, die ihm den Anschluß an die innerschlesische Wirtschaft
bringen würde. Von gleicher Dringlichkeit ist der Bau einer Bahnlinie von Neumittelwalde
über Groß-Wartenberg nach Namslau, die den durch die neue Grenzziehung am
meisten geschädigten unmittelbaren Grenzbezirken der Kreise Groß-Wartenberg
und Namslau einen Ersatz für die abgeschnittenen Bahnen und Chausseen geben und
ihnen den notwendigen wirtschaftlichen Rückhalt bieten soll. Auch diese Bahn,
deren Bau gleichfalls schon seit langer Zeit gefordert war, ist unbedingt erforderlich,
um dem Grenzgebiete die Lebens- und Entwicklungsmöglichkeit zu erhalten. Es ist
dringend zu hoffen, daß die Verhandlungen im Reichstage über den Bau der
Bahnlinie Brieg-Namslau-Groß-Wartenberg-Neumittelwalde als durchgehende Strecke
bald zu einem positiven Ergebnis führen werden. Eine schwere und nicht weiter aufschiebbare Aufgabe ist
es für den Kreis, das durch die neue Grenzziehung zerrissene Straßennetz
wiederherzustellen. Von den vier durch die neue Grenzziehung abgeschnittenen Straßen
liegen drei in der nunmehr zu Polen gehörigen Stadt Reichthal zusammen. Es ist
unumgänglich, diese Straßen auf deutschem Gebiet durch Querstraßen
wieder untereinander zu verbinden. Ein weiteres brennendes Problem ist die große Wohnungsnot
in Stadt und Land. Seit sich das Schicksal der abgetretenen Gebiete entschieden, findet
aus diesen ein fortgesetzter Zuzug von Familien statt, die teils gezwungen, teils freiwillig
über die Grenze abwandern, um sich im hiesigen Kreise, möglichst nahe ihrer
bisherigen Heimat, Existenz und Unterkunft zu suchen. Die allgemeine Wohnungsnot hat
dadurch eine starke Verschärfung erfahren. Von großer Wichtigkeit ist ferner
auch die Förderung des Baues von Landarbeiterwohnungen zwecks Heranziehung und
Seßhaftmachung deutscher Arbeitskräfte an Stelle der ausländischen
Saisonarbeiter, die immer noch in einer großen Zahl von landwirtschaftlichen
Betrieben beschäftigt werden. Eine gleichfalls auf die neue Grenzziehung zurückzuführende
Erscheinung ist die außerordentliche Kreditnot im hiesigen Grenzgebiete, unter
welcher Landwirtschaft, Handel und Gewerbe, die namentlich wegen der Verschlechterung
der Verkehrslage und des Verlustes von Hinterland und Absatzgebieten ohnehin hier mehr
als anderwärts um ihre Existenz zu kämpfen haben, in gleichem Maße
leiden. Die Geldgeber kennen die Not des Grenzlandes und die sich auf allen Gebieten
auswirkenden Folgen der neuen Grenzziehung und ziehen es deshalb vor, das Grenzgebiet
zu meiden. Soweit in die Grenzkreise überhaupt Kredite gegeben weiden, geschieht
es unter größter Zurückhaltung und erschwerten Bedingungen. Nachdem der Kreis Namslau durch die neue Grenzziehung unmittelbare
Grenzmark geworden ist, hat auch die Siedlungsfrage für ihn hohe Bedeutung gewonnen.
Die Bevölkerungsbewegung im Kreise Namslau in den vergangenen Jahrzehnten ist
eine wenig günstige gewesen. Der Kreis zählte 1871 - 37 319, 1890 - 36 603,
1900 - 34 548, 1910 = 33 452 und 1925 (allerdings nach Verlust von 5000 Einw. des Reichthaler
Ländchens) = 31036 Einw. Die Bevölkerungsdichte beträgt nur 60 Einw.
auf das Quadratkilometer gegenüber einem Durchschnitt von 124 für Schlesien
und von 130 für Preußen. Unter diesen Umständen erscheint eine Vermehrung
der Bevölkerung und der selbständigen Existenzen durch Schaffung neuer Bauernstellen
dringend geboten. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß eine gesunde Siedlung das
geeignete Mittel ist, den Grenzbezirken die nötige innere Festigkeit und eine
erhöhte Widerstandkraft nach außen zu geben. Voraussetzung für eine
gesunde Siedlung ist aber wiederum das Vorhandensein guter Verkehrswege, insbesondere
von Eisenbahnlinien nach dem Innern des Landes, die auch deshalb notwendig slnd, um
dem Grenzgebiete die Unterhaltung lebensvoller Beziehungen zum Landesinnern zu ermöglichen.
Diese Bedeutung hat für die Kreise Groß-Wartenberg und Namslau die schon
mehrgenannte Bahnlinie Brieg-Namslau-Groß-Wartenberg- Neumittelwalde. Von größter Wichtigkeit für die Landeskultur
wäre eine durchgreifende Regulierung des Stobers und der Weide. Durch Meliorierung
könnten in beiden Niederungen große Flächen jetzt minderwertiger Äcker
und Wiesen in ertragsfähiges Kulturland verwandelt werden. Auf kulturellem Gebiete ist eine Verbesserung des Bildungswesens
zu fordern, und es erscheint der Wunsch berechtigt, daß wenigstens die Kreisstadt
eine höhere Schule erhält. Die in Namslau bestehenden "gehobenen Klassen",
die bis zur Untersekunda einschließlich führen, können dem Bedürfnis
unseres Grenzkreises nicht mehr genügen. Größtes Gewicht muß
auch darauf gelegt werden, das Volkschulwesen in den Grenzgebieten vorbildlich zu gestalten.
Die Schulgebäude müßten von bester Beschaffenheit sein, und die bewährtesten
Lehrkräfte waren hier am Platze. Hierzu müssen kommen die Darbietung geeigneten
Lesestoffs in Volksbüchereien, die Veranstaltung von guten Theatervorführungen,
Konzerten und Vorträgen, und nicht zuletzt die Pflege von Leibesübungen,
Sport und Spiel. Auch in ihren sonstigen Zweigen haben Jugendpflege und Wohlfahrtspflege
ihre besondere Bedeutung hier im neuen Grenzgebiete. Allen diesen Nöten und Sorgen eines durch den Versaillei
Vertrag schwer geschädigten Grenzkreises hat sich neuerdings eine weitere äußerst
ernste Sorge zugesellt. Von dem Reichswehrministerium wird ernsthaft erwogen, der Kreisstadt
unseres Grenzkreises die hier seit über 120 Jahren bestehende Garnison zu nehmen.
Alle Gegenvorstellungen der Behörden, von Kreistag und Stadtverordnetenversammlung
und alle dringenden Proteste der gesamten Bevölkerung aus Stadt und Land ohne
Unterschied des Standes und der Partei haben bisher dieses Damoklesschwert nicht von
unserem Grenzlande zu nehmen vermocht. Von niemand wird es verstanden, daß unserem
unter dem schweren Drucke der Grenzlandnot stehenden, um seine Existenz ringenden Grenzgebiet
ein solch neuer Schlag und ein Schaden zugefügt werden soll, der nicht wieder
gutzumachen ist. Daß in einem notleidenden Grenzgebiet das Vorhandensein einer
Reichswehrgarnison einen wirtschaftlichen, finanziellen, kulturellen, nationalen und
moralischen Faktor ersten Ranges darstellt, ist ohne weiteres einleuchtend. Der Kreis Namslau hat durch die neue Grenzziehung in seiner
Entwicklung und Leistungsfähigkeit schwerste Einbuße erlitten. Gleichwohl
wird er mit allen Kräften trachten, den Aufgaben gerecht zu werden, die er als
Grenzmark zu erfüllen hat. Er zählt dabei auf weitgehende Unterstützung
durch Reich und Staat, die hier ernste Pflichten haben. Deutsch, wie er stets gewesen,
wird der Kreis Namslau bleiben, und weiter brennen wird die ihm geschlagene schwere
Wunde:--------Reichthal, von alters her dem Kreise Namslau zugehörig, kerndeutsches
Land. |