Anmerkungen (kursiv) von Peter Graf Henckel von Donnersmarck, Grambschütz.
Der Treck des Dominiums Kaulwitz war zuerst losgefahren, später dann die Bauern
aus dem Dorf mit ihren Gespannen. Übrig blieben die Familien/Personen, die keine
Pferde und Wagen hatten, bzw. nicht mitgenommen wurden oder nicht mitgenommen werden
konnten.
Am 18. Januar 1945 war unser kleines Dorf von ca. 800 Einwohnern voller Angst und Bangen.
Die russische Front rückte immer näher und es wurde gepackt und auf Bauernwägen
geladen, was nur darauf passte. Am Abend zuckte und blitzte es über dem Wald gen
Osten, als ob ganz Glausche beschossen und niedergebrannt würde (nw, gut 3
km Luftlinie, nahe der polnischen Grenze von 1919). Es war eine eiskalte, sternenklare
Nacht und wir standen auf der Dorfstraße und sahen voll Schrecken das Geschehen
am Horizont.
Am nächsten Morgen, 19. Januar, fuhrenn die Bauern im Treck dann ab und wir anderen
wurden auf Wehrmachtlaster geladen und nach Schweidnitz in eine große Halle gebracht.
Wir waren zu sechst in unserer Familie, die Mutter, die Großmutter und wir vier
Kinder, Wolfgang 9 Jahre, Georg 7 Jahre, Lothar 4 und ich 12 Jahre alt. Da unsere Oma
eine Cousine in Reichenbach hatte, wollte sie unbedingt dort hin, was wir dann auch
taten, wie wir reisten weiß ich nicht mehr. Der Nachteil war, dass wir uns nun
von den anderen Kaulwitzern trennten.
Schweidnitz liegt 50 km südwestlich von Breslau, am Fuße des Eulengebirges
in einer fruchtbaren Ebene. Die Friedenskirchen in Schweidnitz / ?widnica und Jauer
/ Jawor sind die größten sakralen Fachwerkbauten in Europa. Sie entstanden
Mitte des 17. Jahrhunderts im Anschluss an den Westfälischen Frieden, dem sie
ihren Namen verdanken. Die beiden Holzkirchen haben die Jahrhunderte überstanden
und gehören heute zum gemeinsamen Kulturerbe der Deutschen und Polen. Im Dezember
2001 wurden sie in die Liste des Welterbes der UNESCO aufgenommen, dafür hatten
sich polnische und deutsche Denkmalpfleger eingesetzt. Reichenbach lag nicht
weit entfernt. Im Landkreis Reichenbach der Ort Gnadenfrei, der durch die Herrnhuter
Brüdergemeine bekannt war.
Gegen Mitte oder Ende Februar wurde es auch in Reichenbach gefährlich, so zogen
wir in die Tschechei und landeten in Bilin / Bilina (ca. 35 km w Leitmeritz / Litomerice),
wo wir und andere Flüchtlinge in einem großen Haus untergebracht wurden.
Jede Familie erhielt ein Zimmer und wir Kinder gingen dort sogar in die Schule. Aber
die Russen holten uns auch dort ein und bald endete der Krieg, am 8. Mai.
Die ganze Zeit hatten wir nichts von unserem Vater gehört und so war es selbst
verständlich, dass wir nach Kaulwitz zurückkehren wollten. Mit einem Schiff
ging es die Elbe hoch, bis Dresden. Dort suchten wir den Bahnhof, dabei ein paar Habseligkeiten,
die wir mitschleppten, aber wir wurden davon gejagt und mussten unser bisschen Gepäck
auf dem Bahnsteig lassen. So gingen wir zu Fuß Richtung Osten, durch die noch
rauchende, zerstörte Stadt; in meiner Erinnerung eine menschenleere Wüste
von Schutt und zerfallenen Mauern. Drei Wochen lang waren wir so unterwegs, eine Kolonne
von Frauen und Kindern, hungernd und müde. In leeren Höfen durchsuchten wir
die Keller nach ein paar Kartoffeln ab oder bettelten um irgend etwas zum Essen und
schliefen in Scheunen und Ställen.
So erreichten wir Breslau, das Dresden in seiner Zerstörung ähnelte. Anfang
Juni konnten wir endlich den Kirchturm und den Brennereischornstein von Kaulwitz sehen.
Voller Spannung eilten wir die letzten Kilometer der Heimat entgegen - aber welche
Enttäuschung! Nur ein paar Kaulwitzer waren zurück gekehrt. Niemand hatte
unseren Vater gesehen, er war von Russland nicht heimgegekehrt. Unsere Wohnung war
von Polen bewohnt und vor dem Haus lag ein Haufen von Sachen, unsere kleinen Möbel,
Bilder usw., die die Bewohner einfach zum Fenster rausgeworfen hatten. Meine Mutter
war entsetzt und wir weinten! Wir wurden in dem früheren Schwesternhaus in das
Kindergarten-zimmer gewiesen, wo wir bis März 1946 wohnten.
Der Kindergarten, auch Spielschule genannt, war im "Eleonoren-Haus" untergebracht.
Es steht am Ortsausgang nach Namslau rechts an Straße; heute privat und bestens
renoviert. Über dem Eingang findet sich folgende Aufschrift: "ELEONORENS
HAUS / Erbaut im Jahre des Herrn 1905 / Zum Andenken an / Eleonore Graefin Henckel
von Donnersmarck / geb. Graefin Frankenberg". Ihr Sohn Johannes-Edgar, Grambschütz
(mein Großvater), bestimmte in seinem Testament von 1907: "Für das
in Kaulwitz erbaute Eleonoren-Haus ist mein Sohn verpflichtet, so lange er Kaulwitz
besitzt, die mit dem Vaterländischen Frauenverein vereinbarten Leistungen weiter
fortzusetzen". Diese Frauenvereine waren eine Art Vorläufer des Roten Kreuzes.
Später wurde dort der Kindergarten /Sozialstation eingerichtet, betreut von Klosterschwestern,
die 1942/43 weggegangen wurden. Auch in polnischer Zeit lange als Sozial- und Entbindungsstation
genutzt.
In dem Zimmer nebenan wohnte schon das ältere Tischlerehepaar (Paul Bayer?) des
Dorfes. Auf dem ehemaligen Dominium der Henckel von Donnersmarck, mussten meine Mutter
und ich dann täglich auf den Feldern arbeiten wie Mägde, dafür erhielten
wir je ein halbes Pfund Brot pro Tag, ein Pfund also für sechs Personen. Jeden
Morgen mussten wir uns anstellen und ein Russe, mit dem Gummiknüppel in der Hand,
befahl, wo wir an dem Tag zu arbeiten hatten. Es ging mit dem Hungern weiter und wir
"organisierten" Gemüse in der Dominium-Gärtnerei, wo der Gärtner
uns Gemüse zukommen ließ, auch oft heimlich nachts brachte. Im März
1946 mussten dann alle Deutschen aufs Dominium in die Arbeiterwohnungen ziehen, wieder
eine Stube für uns alle. Kurz danach erhielten wir die erlösende Nachricht,
dass unser Vater, der drei Jahre in Russland als Soldat war, sicher in Bayern auf einem
Hof wohnte. Nur eines wollten wir nun, raus aus Schlesien, dass nun polnisch war, und
zu unserem Vater.
Aber dann passierte das Schrecklichste aller Erlebnisse. Am 6. April, ein Sonnabend,
morgens um 9 Uhr, hörten wir einen furchtbaren Knall und irgendwie wusste ich,
das geht uns an! Mutter und ich eilten aus dem Haus in Richtung Schloßpark, woher
der Knall gekommen war. Kaum um die Ecke, kamen Männer, die unsere beiden jüngeren
Brüder schwer verletzt auf den Armen trugen. Lothars rechte Bein war weggerissen
und er blutete aus dem Gesicht und den Armen. Georg war ohnmächtig, das Gesicht
ganz schwarz. Ein kleiner Sohn des Nachbarn war auch dabei, er war sofort tot. Sie
waren im Schlossgarten auf eine Landmine getreten. Die beiden Kinder wurden dann von
einem Sanitäter verbunden und auf einem Pferdewagen nach Polen (nach Osten) rein
gefahren, denn in Namslau (Namyslow, Kreisstadt, sw, 8 km) gab es damals keinerlei
Versorgung für sie. Abends um 11 Uhr kamen sie erst in einem Krankenhaus an. Mutter
konnte nicht dort bleiben und unbeschreiblich war die Angst und Sorge von der Ferne.
Ich will es auch gar nicht versuchen auszudrücken.
Nach Wochen kamen die Jungen dann wieder nach Kaulwitz, Lothars Bein war amputiert
worden. Inzwischen halfen uns deutsche Männer die Ausreise zu planen, einer verkaufte
dafür seine einzige Ziege, um uns das Geld für die Zugfahrt nach Ostdeutschland
zu bezahlen. So fuhren wir gen Westen und wurden in einem Baracken-Flüchtlingslager
in Leipzig untergebracht. Dort waren schon viele Menschen, die alle auf die Weiterreise
nach Westdeutschland warteten, denn der Eiserne Vorhang war schon gefallen. So ging
der Kampf ums Überleben weiter.
Wir lebten hauptsächlich von Rüben und Roten Rüben (Rote Bete),
die wir von vorbei fahrenden Wagen rissen, wenn Bauern mit ihrem Tierfutter vorbeifuhren.
Nach drei Monaten konnten wir endlich die Fahrt nach Bayern beginnen, wo unser Vater
ängstlich auf uns wartete. Auf dem kleinen Gut arbeiteten Mutter und ich weiter
in der Landwirtschaft, während mein Vater die Kinder des Besitzers und meine jüngeren
Brüder unterrichtete. Das war alles noch in 1946.
Im Frühjahr 1949 wurde mir dann die Gelegenheit geboten einen Kurs in der Haushaltungsschule
Strahlfeld zu machen und hier erhielt ich meine Berufung und traf die Entscheidung
Missions-schwester zu werden. Im Herbst 1959 bekam mein Vater dann in Baden-Württemberg
die lang ersehnte Stelle als Lehrer (Georg Schneider war einer der beiden Kaulwitzer
Lehrer). So endeten die fünf schwersten Jahre meiner Familie.
Kloster St. Dominikus, im August 2010
------------------------------------------
OP = Ordo Fratrum Praedicatorum = Orden der Prediger = DominikanerInnen. Im Kloster
Strahlfeld leben Missionsdominikanerinnen vom Heiligsten Herzen Jesu.
Auf der Suche nach Fluchtberichten aus Kaulwitz wurde ich auf Sr. Ursula Schneider
verwiesen. Sie berichtete mir telefonisch von ihren Erlebnissen und ich bat sie um
eine schriftliche Abfassung.
Für den unbefangenen Leser mag dieser Bericht so klingen, als sei nicht allzu
viel passiert. Es ist ja niemand gefoltert oder missbraucht worden. Doch diese mündlichen
von Flucht und Bedrohung waren unmenschlich, grauenvoll. Der Vater war eingezogen,
die Mutter, wie so häufig in dieser Zeit, auf sich allein gestellt.
Als Ordensfrau wirkte Schwester Ursula 43 Jahre in Rhodesien/Zibabwe. Zwei Revolutionen
hat sie dort miterlebt, mit all dem Grauen, das zu solchen Zeiten Menschen "befähigen"
kann.
Jene, die gelitten haben, können den Schmerz nicht vergessen. Sie können
ihn verarbeiten', lernen damit umzugehen, aber er verschwindet nicht. Jedoch
"Hört endlich auf damit", ist kein gutes Rezept. Eine Balance zwischen
Erinnern und Vergessen zu finden ist schwer. Die Dinge anzuschauen macht sie erträglicher.
Von ihnen zu wissen, ist Voraussetzung für den Weg in die Zukunft, in ein Versöhnen.
Versöhnung aber setzt voraus, immer wieder von neuem zu versuchen den andere zu
verstehen, mit ihm zu reden, ihn anzuerkennen.
01/11 PHD
|