Dorothea Sahling, Geschichten eines jungen Mädchens aus dem Kaulwitzer Forsthaus


Frau Sahling ist eine Tochter des Kaulwitzer Försters Alexander Wochnik.

Heute ist der 2. Februar 2004. Es ist ein regnerischer, düsterer und ungemütlicher Tag. Das Licht ist eingeschaltet. Zum einen damit meine Augen beim Schreiben nicht so leiden, aber zum anderen auch, weil ich so das Gefühl habe, dass ich die vielen Erinnerungen, die ich in meinen 73 Jahren erlebt habe, besser sehen kann. Schon lange dachte ich daran, die vielen Erlebnisse meines Lebens niederzuschreiben, doch erst jetzt drängte mich mein Bewusstsein immer mehr dazu, mir endlich Zeit zu nehmen, um mich an alles zu erinnern, bevor es ganz in Vergessenheit gerät.
In meiner Erzählung werde ich vielen Menschen begegnen. Zum einen solchen, die nur flüchtig mein Leben kreuzten und an denen nicht viel Erinnerung hängt. Zum zweiten Menschen, die lange und auch immer wiederkehrend eine Rolle in meinem Leben spielten. Aber nicht zuletzt, die Menschen, die ich in mein Herz geschlossen habe, und die für immer, wenn auch nur in Gedanken, ein Teil meines Lebens bleiben.

Das Kaulwitzer Forsthaus
Um erst einmal einen Eindruck von meiner Heimat und meiner Familie zu bekommen, beginne ich meine Geschichte im Jahr 1934 in dem Ort, in dem ich und meine Geschwister das Licht der Welt erblickten. Kaulwitz, ein kleines Dorf in Schlesien, nahe der polnischen Grenze. Das Haus indem wir wohnten, war die Försterei des Grafen Henckel von Donnersmarck. Mein Vater war als Revierförster für Jagd und Forstwirtschaft dort angestellt. Es stand nahe dem Waldrand und war teilweise von Laub- und Nadelbäumen verhüllt (Meßtischblatt: "F. Waldhof", Försterei, etwas

oberhalb nördlich der Straße nach Glausche). So machte es einen verträumten und idyllischen Eindruck. Vor unserem Eingang schlängelte sich ein kleiner Bach entlang, auf dem im Sommer immer Enten schwammen. Ich kann mich dran erinnern, dass mir und meinem kleinen Bruder Valentin immer besonders die kleinen flauschigen Küken gefallen haben. Auch das Bellen unserer Jagdhunde, die unsere Besucher im Hof schon ankündigten und die vielen Hühner, die in unserem Hof pickend umher liefen, sind mir noch gut in Erinnerung.
Zu dieser Zeit war ich 3 ½, meiner kleiner Bruder war zwei Jahre jünger und unsere ältere Schwester war 6. Sie hieß Johanna, doch sie wurde von allen nur Hannchen genannt. Unmittelbar in der Nähe unseres Hauses war eine kleine Lichtung, von der aus man bis zum Dorf schauen konnte. Besonders gut war natürlich der Kirchturm zu erkennen, da dieser aus den vielen Häusern herausragte. Hinter der Lichtung lag ein großes Feld, das dem Grafen gehörte, für den mein Vater arbeitete. Für uns Kinder war dies ein richtiges Paradies.

Ein trauriger Tag in unserer Familie
Doch das begonnene Jahr, sollte noch eine schreckliche Wendung nehmen. Im November erkrankte Valentin an Diphtherie, worauf Hannchen und ich wegen der hohen Ansteckungsgefahr bei einer befreundeten Familie in dem Nachbarort Glausche untergebracht wurden. Am 21.11.1934 verstarb Valentin mit 1 ¾ Jahren in einem Krankenhaus in Namslau.
Dort durften wir uns, nur mit entsprechender Schutzkleidung, von ihm verabschieden. Doch meine Gedanken gehen an den Vortag von Valentins Beerdigung zurück. Der Sarg meines Bruders stand im Wohnzimmer unserer Wohnung. Er sah aus als ob er nur schliefe und gleich wieder aufwachen würde. Doch er tat es nicht und ich konnte es noch nicht verstehen. Der Tag seines Begräbnisses war für uns alle ein schrecklich langer Tag, der nicht zu enden schien. Ich erinnere mich noch genau an den langen Zug von Menschen, die hinter dem schön geschmückten Sarg herliefen. Obwohl dieser Tag für einen November warm und sonnig war, schloss sich ziemlich schnell der Winter mit seinen langen dunklen Tagen an.
Im Wald legte sich eine dichte Schneedecke auf die vorher kahlen Äste und in uns stieg Vorfreude auf, auf den Tag an dem unsere Eltern den Schlitten aus dem Schuppen holen und mit uns durch den verschneiten Wald fahren würden. Dieses "Familienritual" hatte für uns Kinder immer etwas Geheimnisvolles, weil wir ganz leise sein mussten, damit wir die Tiere nicht verscheuchten, für die Vatl überall im Wald Futterstellen aufgebaut hatte.

Ein Weihnachtsfest
Als 1935 die Weihnachtszeit begann, kam Vatl eines Tages mit einem wunderschönen Tannenbaum nach Hause. Als dieser jedoch einen Tag später spurlos verschwunden war, befürchtete ich schon, dass wir auch noch auf einen Weihnachtsbaum verzichten müssten. Ich war so traurig, so dass die Überraschung umso größer war, als am Weihnachtsabend der Christbaum in den schönsten Farben in unserer Stube leuchtete. Darunter lagen die, wie immer, liebevoll eingepackten Geschenke und in der Zimmertür stand ein weiß gekleideter Engel, der mir die Knie weich werden und das Herz höher schlagen ließ. Doch er stand ganz still da und als ich einen kleinen Moment meinen Blick zurück auf den Christbaum gelenkt hatte, war er unbemerkt durch die Tür verschwunden.
Während der Einbescherung, hörten wir Weihnachtslieder und im Anschluss las Muttl uns, wie so oft, Märchen vor, bei denen wir immer gespannt zuhörten. Die übrig gebliebenen Bratäpfel dieses Weihnachtsabends wurden in einem Kachelofen, der ebenfalls in der Stube stand, warm gehalten. So lag ein wunderbarer weihnachtlicher Geruch noch lange in der ganzen Wohnung. Diese Erinnerung und auch der Geruch der Bratäpfel sind noch so in meinem Gedächtnis, als wäre es erst gestern gewesen.
Als Weihnachten mit all den schönen Überraschungen vorbei war, kehrte der winterliche Alltag zurück, der nun nicht mehr von Vorfreude auf Weihnachten gefüllt war, sondern nur noch mit der Kälte und unseren alltäglichen Arbeiten.
Meine Eltern hatten ein schönes Foto meines Bruders eingerahmt und in der Stube an die Wand gehängt. Jedoch sah ich nicht selten wie meine Mutter weinend vor dem Foto stand und es streichelte. Nach und nach packte sie auch alle Sachen Valentins weg, die nach seinem Tod niemand angerührt hatte. Ich hatte mich oft gefragt, wann er wieder zurückkommen würde, da ich dachte, dass er nur für eine Zeit zum lieben Gott gegangen wäre! Doch die Zeit verging und auch mein Glaube daran, dass Valentin wieder käme.
Als die ersten warmen Sonnenstrahlen des Jahres den kalten Winter vertrieben, ging ich eines Tages mit Muttl in den Garten. Als wir vor dem Beet standen, in dem die Erde noch gefroren war, sahen wir die kleinen Abdrücke von Valentins Schuhen, der im letzten Herbst durch das frisch gehackte Beet gelaufen war. Muttl rannen stumme Tränen die Wangen hinunter und ich versuchte sie zu trösten, indem ich ihr versprach, den lieben Gott zu fragen, ob er ihr Valentin nicht wiedergeben könnte. Doch Muttl lächelte nur und sagte, das gehe nicht und dass Valentin nun für immer beim lieben Gott bliebe. Als der Frühling endgültig eingekehrt war und die Erde aufgetaut, pflanzte Muttl ein Rosenbäumchen mit zart-rosanen Blüten auf diese Stelle.

Ein schöner Sommer am Rand des Kaulwitzer Waldes
Meine Erinnerungen gehen nun in den Sommer hinein, indem Vatl uns unter der Wasserpumpe, die vor dem Gartenzaun stand, eine alte Badewanne aufstellte. Sie wurde mit Wasser gefüllt und wir durften darin planschen. Ich erinnere mich auch deutlich, dass unser Garten im Sommer immer wie ein einziges Blumenmeer in verschiedenen Farben erstrahlte. Wenn man durch das Gartentor hinein kam, blühten rechts und links am Zaun entlang viele wunderschöne gelbe Blumen. Die Rabatten waren mit weißen Steinen abgetrennt. In ihnen blühten Glockenblumen, Margeriten und Lupinen in allen nur vorstellbaren Farben. Hinter diesen Blumenbeeten folgte ein großer Obstgarten, in welchem Apfel-, Birnen-, Pflaumenbäume und auch ein Quittenbaum standen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie die ersten heruntergefallenen Äpfel in dem grünen saftigen Gras leuchteten, und wie außergewöhnlich gut sie schmeckten.
Wenn man dem Verlauf des Weges nun weiter in den Garten hinein folgte, sah man rechts und links am Wegrand Johannis- und Stachelbeersträucher, die ebenfalls in ihren verschiedenen Farben leuchteten. Das Ende des Gartens bildete der Gemüsegarten, der hinter einem Stück Wiese, welches als Wäschegarten gebraucht wurde, zu finden war. Da Muttl das Pflegen des Gartens nicht alleine schaffte, halfen ihr einige Frauen aus der Umgebung. Vor allem das Einkochen des vielen Obstes beanspruchte sehr viel Zeit und Arbeit. Auch während der Waschzeit bekam Muttl Hilfe. Denn die viele Arbeit, die früher eine normale Wäsche gemacht hat, kann man sich im Zeitalter von Waschmaschine und Trockner nicht mehr vorstellen. Mit dem Abkochen der einzelnen Teile und dem Reiben über das Waschbrett war man schon einige Zeit beschäftigt.
Gegenüber unserem Wohnhaus waren außer der Waschküche, noch zwei Stallungen, der Kohlenschuppen und der Ort, an den jeder mal zu Fuß hingeht. Auf dem Hof zwischen Haus und Stall stand eine Linde, unter der die Hühner und Enten herumliefen.
Ich erinnere mich noch, wie sehr wir es genossen haben, die Länge der Sommertage auszukosten, indem wir draußen in den letzten warmen Sonnenstrahlen von Muttl gebadet wurden. Erst wenn die Sonne endgültig untergegangen war, zündete Vatl in der Küche die Petroleumlampe an, die den ganzen Abend brannte, es gab ja noch kein elektrisches Licht, damit wenn wir schon im Bett lagen, der Schein der Lampe noch durch die offene Tür dringen konnte. Der Sommer ging, der Herbst kam und mit ihm das Fallen der Blätter. Das war für uns Kinder immer eine der schönsten Zeiten, da viele Leute halfen die Blätter zusammen zu rechen, um diese zu den Kühen in den Stall zu bringen. Doch bevor die großen Blätterhaufen in die Ställe gebracht wurden, machten wir Kinder, wozu auch die Kinder der Bauern gehörten, uns einen Spaß daraus in die Blätterhaufen zu springen.

Die Geburt meines Bruders Konrad
Der Herbst verging ziemlich schnell und so ist das Nächste an das ich mich erinnere, die Geburt bzw. die Ankunft per Storch, unseres kleinen Bruders Konrad. Erinnern ist eigentlich noch zu viel gesagt, denn am Morgen des 3.12.1935 fuhr unser Vater meine Schwester und mich zu Bekannten ins Dorf, so schöpften wir beide keinen Verdacht was zu Hause passierte und verlebten einen schönen Tag. Doch die Freude war natürlich sehr groß, als wir wieder nach Hause kamen und erfuhren, dass wir ein kleines Brüderchen namens Konrad bekommen hatten. Ich glaube es war nach Valentins Tod das erste Mal, dass ich meine Eltern wieder vollkommen glücklich sah. Vor allem meinen Vater erfüllte es mit Stolz, endlich wieder einen Sohn im Haus zu haben, denn auch wenn er es nie zugegeben hätte, wünschte er sich mehr als wir alle, einen Stammhalter. Vatl nannte ihn als er später heranwuchs, immer einen "strammen Packer".
Weihnachten war für uns alle in diesem Jahr ein richtiges Fest. Am 17. Januar wurde ich 5 Jahre alt und am 25. Februar wurde mein Schwester Hannchen 8 Jahre. Hannchen hatte zu Weihnachten ein schönes Kinderfahrrad bekommen und ich einen Kaufmannsladen, es waren schöne Geschenke. Hannchen ging ab Ostern das dritte Jahr zur Schule und da konnte sie das Fahrrad gut gebrauchen. Der Schulweg war immerhin ein Fußmarsch von 3 km, aber mit dem Fahrrad eine Leichtigkeit. Autos wie in der heutigen Zeit, fuhren sehr wenige, manchmal auch gar keines. Wenn Muttl früh die Schulbrote für Hannchen machte, wollte ich immer dabei sein und fragte jedes Mal "Wann kann ich denn mitgehen?".
Vater ging später aus dem Haus und so konnte ich dann mit meinen Eltern frühstücken. Unser kleiner Schatz schlief meistens noch nach seiner ersten Flasche. Es war so schön zuzusehen, wie er gebadet wurde. Da war er so still und wonnig anzusehen. Aber wenn er raus sollte aus dem Wasser, war er oft am Schreien. Ich freute mich auf die warmen Tage, da durfte ich mit Muttl schon mal den Kinderwagen schieben. Im Sommer war der kleine Konrad im Garten, sein Laufställchen stand mitten auf dem Rasen und vom Fenster aus konnte Mutter beobachten, was wir beide machten. Denn ich durfte immer mal mit ihm spielen.
Als Hannchen aus der Schule kam, war es um die Mittagszeit und da kam auch unser Vatl aus dem Walde. Es war die Zeit, da der Kleine zuerst drankam, nach seiner Mahlzeit musste er ins Kinderbett. Wir waren dann zu viert. Hannchen erzählte aus der Schule, was sie so alles lernten und mit welchen Mädchen aus Ihrer Klasse sich Freundschaften anbandelten. Vatl erzählte von seinen Kulturarbeitern, was sie nun pflanzten und ob alles angegangen (angewachsen) war. Sonst mussten noch einmal Nachpflanzungen gemacht werden. Auch für das Wild war er verantwortlich, darum ging er an die Futterstellen und prüfte die Wechsel der Rehe. Einmal brachte er ein verletztes Rehkitz nach Hause und pflege es mit der Flasche gesund. Für uns Kinder war es etwas Schönes zuzuschauen. Das Reh wurde größer und als es gesund geworden war, ließ Vatl es wieder in den Wald laufen. Aber ab und zu stand es wieder im Garten, und wenn wir ‚Hansi' riefen kam es zu uns, aber anfassen ließ es sich nicht mehr. Wir ließen es dann ruhig fressen und im Gras hin und herlaufen.
Von Vatl konnten wir viel lernen, und er erklärte uns über das Verhalten der Tiere auf. Wenn Hannchen mit den Schularbeiten fertig war, wollte ich oftmals mit ihr Ball spielen, aber sie hatte viele Arbeiten die ihr Spaß machten. Sie hatte nun nicht mehr so die Zeit, denn sie wollte ja auch mal ihr Brüderchen für sich haben, da ich es ja den ganzen Vormittag hatte.

Ein schöner Sommer
Im Sommer war es am schönsten. Wenn Muttl einkaufen fuhr, blieb Vatl bei uns zu Hause und arbeitete im Büro, damit wir das Gefühl hatten: der Vatl ist ja zu Hause. Und wenn was war, ging ich zu ihm und sagte ihm Bescheid. Die Erntezeit näherte sich, das Getreide auf den Feldern mit den herrlichen Mohnblumen und Kornblumen war wunderschön. Ich musste aufpassen, dass die Gänse nicht vom Hof liefen, sonst wären sie im Getreide verschwunden. Erst als die Felder abgeerntet waren, hatten sie wieder Freilauf. Und da waren die Enten nicht faul und rannten mit ihrem Watschelgang hinter den Gänsen her, mit lärmendem Geschnatter und Geschrei bis die Kröpfe wieder voll waren. Die Enten nahmen gleich im Graben ein kühles Bad, die Gänse löschten sich nur den Durst und rannten und flogen mit Freuden wieder dem Hof zu. Die Hühner waren sowieso immer frei und konnten den ganzen Tag rennen und fressen. Jede Menge Abwechslung.
Einmal schaute ich zu, als ein Bussard geflogen kam. Mit einem Sturzflug holte er sich ein kleines Hühnchen, obwohl die alte Henne alle Kleinen verteidigte, indem sie sich mit dem Bussard anlegte. Die Federn flogen durch die Gegend, aber das Küken holte er doch. Ich habe vor Angst die Flucht ergriffen, da er mich auch noch ins Visier nahm.
Manches Mal als unsere Muttl mit uns spazieren ging, warnte sie uns vor gefährlichen Ecken des Waldes, die keinen Kilometer von unserer Försterei weg waren. Zum einem mal ein Sumpf, der von gelben und blauen Blumen leuchtete. Es ging ein kleiner Steg in der Mitte durch, das sah aus wie ein Damm, rechts und links mit Seerosen, Sumpfdotterblumen und blauem Schilfgras umrahmt. Ein Schild mit der Aufschrift "Sumpfgebiet", stand zur Warnung für alle Fußgänger am Rand des Waldstücks. Doch der Sumpf war nicht die einzige gefährliche Stelle, denn auch die Ecken an denen das Rotwild wechselte, waren nicht ungefährlich. Als Kind in diesem Alter, sah ich alle möglichen Wassergeister, was mich aus Angst verschleppt zu werden, meistens von diesen Ecken fernhielt.
In der Nähe war eine mit Gras überwucherte Grube, von der ich unsere Mutter immer noch sagen höre, dass dort die Zigeuner lagern, bevor sie weiter ziehen. Doch auch von denen wollte ich mich immer fernhalten, da ich sie nur aus Erzählungen in Verbindung mit dem Verschwinden von kleinen Kindern kannte oder aus Märchen, in denen sie mir nur als Diebe in Erinnerung waren. Außerdem konnte ich nie verstehen, wie jemand sein ganzes Leben in einem Zigeunerwagen hausen kann.
Ein paar Jahre später, kamen im Sommer Zigeuner in unseren Hof gefahren, ich hatte solche Angst, dass ich sofort ins Haus lief und nach meiner Mutter schrie! Da Vatl nicht da war, schlossen wir Fenster und Türen zu und blieben alle im Haus. Als sie wieder weggefahren waren, fehlten uns zwar ein paar Hühner und Enten, aber ich war nur froh, dass sie mich dagelassen hatten. Als Vatl nach Hause kam, erzählte er uns von ein paar Zigeunern, die in der üblichen Grube pausierten und die er darauf hinweisen musste, dass offenes Feuer so dicht am Wald verboten wäre. Doch dass das, was sie kochen wollten aus unserem Hof kam, ahnte er zu dieser Zeit noch nicht.

Meine Einschulung 1937 - meine Schwester Hannchen
Da ich nun schon sechs Jahre alt war, fand in diesem Jahr nach Ostern meine Einschulung statt (1941 wurde der Schulbeginn auf September gelegt, nach 1945 je nach Bundesland umgestellt, 1966 ganz D wieder auf Herbst). So lernte ich viele Kinder aus dem Dorf kennen lernte, mit denen ich sonst nur wenig zu tun hatte. Unser Lehrer, Herr Schneider, setzte mich neben ein Mädchen die Dorothea Krömer hieß und dieser Tag, der Tag an dem ich dieses Mädchen kennen lernte, sollte der Anfang einer sehr langen Freundschaft werden! In unserem Klassenraum standen so lange Bänke, dass wir mit vier Kindern daran sitzen konnten. Die Sitzbank war mit dem Schreibpult verbunden, in dessen Platte Tintenfässchen und die Schreibrinne, in die wir unsere Stifte legten, eingearbeitet waren. Unter der Pultplatte war ein zusätzliches Fach, in das wir unsere Büchertasche legten. Das erste Jahr schrieben wir noch auf Schiefertafeln. Die eine Seite war zum Schreiben, die andere zum Rechnen und an der Seite der Tafel waren ein Schwamm und ein Lappen befestigt.
Ein halbes Jahr später, schrieben wir schon mit Bleistiften auf Papier und später sogar mit Tinte. Das einzige Problem, das ich im ersten Jahr hatte, war das, dass ich Linkshänderin bin, was am Anfang ein ziemliches Problem für mich war. Ich bemühte mich zwar sehr, trotzdem schön zu schreiben, doch reichte dies noch lange nicht, um meinen Lehrer zufrieden zu stellen. Eines Tages ging unser Lehrer durch die Reihen, um unsere Fortschritte beim Schreiben zu kontrollieren und da bemerkte er, dass ich von rechts nach links schrieb. Daraufhin wischte er alles was ich geschrieben hatte weg und sagte, dass ich noch einmal von vorne beginnen müsste und dass ich mir sofort angewöhnen müsste, von links nach rechts zu schreiben. Der Anfang war wirklich nicht einfach, doch irgendwann gewöhnt man sich halt an alles. Später entdeckte ich an mir das Talent, perfekte Spiegelschrift zu schreiben.
Meine Schwester Hannchen, die inzwischen neun Jahre alt war, bereitete sich mit Eifer auf ihre Erstkommunion vor, die am Weißen Sonntag stattfinden sollte. Doch plötzlich erkrankte sie schwer. Sie bekam immer wiederkehrende Fieberschübe, die sehr bedenklich waren. Tag und Nacht saß jemand an ihrem Bett. Nachts kam meistens eine von den lieben Schwestern, so nannten wir immer die Nonnen, die ich noch sehr gut aus dem von ihnen geleiteten Kindergarten kannte.
Mein nächstes Erlebnis war so einschneidend, dass ich mich sehr gut daran erinnere. Hannchen bekam von unserem Dorfpfarrer die 1.heilige Kommunion in Krankenzimmer gebracht, weil sie immer noch so krank und schwach war. Es war für uns alle sehr komisch, als Pfarrer Hiller mit ein paar Ministranten an Hannchens Bett trat. Wir knieten alle daneben und ich fragte mich, ob Hannchen nun auch sterben müsse, wie Valentin schon vor ihr.
Ich betete kreuz und quer was ich schon beten konnte, und flehte zu Gott um ihr Leben. Doch als der Pfarrer mit dem Allerheiligsten ins Zimmer trat, wurden ihre vorher so stumpfen und kleinen Augen groß und klar, als wenn sie mehr sehen könnte als alle die, die um ihr Bett knieten. Eine Weile saßen der Pfarrer und die Eltern noch um ihr Bett, während ich im Nebenzimmer wartete. Als Vatl den Pfarrer und die Ministranten zum Plauwagen (gedeckter Kutschwagen) brachte, wartete dort der Kutscher bei seinen Pferden. Ich beobachtet sie noch eine Weile und verfiel in meine eigenen Gedanken, bis Vatl zurück ins Haus kam, sofort wieder zu Muttl ging, welche immer noch an Hannchens Bett saß und sie dann beide ihr beim Schlafen zuguckten. In der Nacht kam zur Krankenwache wieder die liebe Nonne, die Krankenschwester gelernt hatte und somit eine große Entlastung für Muttl war. Am nächsten Morgen fuhr sie mit dem Fahrrad zurück ins Dorf, wo sie in dem Schwesternhaus der katholischen Kirchengemeinde wohnte.
Dieses Gebäude war als Kindergarten/Sozialstation eingerichtet, betreut von Klosterschwestern, die 1942/43 weggegangen wurden. Dann in polnischer Zeit, lange Sozial- und Entbindungsstation. Erbaut 1905, steht es heute noch rechts an der Straße nach Namislow / Namslau; jetzt privat und bestens renoviert.
Schon am nächsten Vormittag sank das Fieber meiner Schwester und sie begann wieder klare Sätze zu reden. Auch konnte sie das Bellen unserer Hunde auf dem Hof, Mara und Beo, unterscheiden, wenn man sie danach fragte. Gegen Mittag bekam sie Hunger und was das Wichtigste war, auch Appetit auf Täubchensuppe; das war kein Problem, da immer viele Tauben bei uns auf dem Hof rumflogen. Die nächsten Tage war eine immer raschere Genesung zu erkennen. Als der Doktor kam um Hannchen zu untersuchen, war er auch sehr erstaunt und erfreut, sie wieder so zu sehen.

Während er sie untersuchte, sang er ein Lied, das mir noch heute in den Ohren liegt:
"Die Sonnenstrahlen, die an dein Fenster prallen, die sagen dir, das sind Grüße auch von mir!"
Bald darauf konnte Hannchen wieder vollständig genesen herumlaufen und kurz später sogar wieder zur Schule gehen. Selbst die Kinder in der Schule hatten während Hannchens Krankheit für sie gebetet, da sie wollten, dass Hannchen mit ihnen zusammen zu erste heiligen Kommunion gehen konnte, und tatsächlich war Hannchen am Weißen Sonntag zum 1. Kommunions-Fest wieder gesund, um mit ihren Freunden zu feiern.

Herbstliche Jagdfeste
Vergessen werde ich auch nie die herbstlichen Jagdfeste. Ich hörte schon, als ich aus der Schule kam, dass im Wald geschossen wurde. Die Schüsse waren so laut, dass ich im ersten Moment sogar Angst hatte den Weg bis zu unserem Haus zu gehen. Doch ich wusste ja schon aus den letzten Jahren, dass die Jagd zwar im Wald, aber weiter weg von unserem Haus stattfand und so traute ich mich auch, wenn auch etwas zügiger, die letzten Meter zur Haustür zu gehen. Am Nachmittag lagen dann alle erlegten Tiere, Hasen, Füchse, Rehe und Fasanen zusammen und eine Bläsergruppe blies das alljährliche Halali (Gruß, Jagdruf)! Die Zuhörer, bestanden jedoch nicht nur aus den etlichen Förstern und Treibern, sondern auch aus dem Graf und der Gräfin, aus Gästen und dem gräflichen Personal. Im Anschluss blieben alle noch im Freien auf der großen Waldwiese zu einem Umtrunk und einem gemeinsamen Essen.

Mein kleiner Bruder Konrad
Auch der restliche Sommer verlief sehr abwechslungsreich. Konrad lernte das Laufen und machte nun Entdeckungstouren durch Garten und Hof. Wir Kinder hatten für uns schöne Korbsessel, eine dazu passende Korbbank und einen Tisch mit einer weißen abwaschbaren Tischplatte, an dem wir im Sommer oft draußen gemalt, gebastelt und Hausaufgaben gemacht haben. Im Winter stellte Vatl diese Möbel in unser Spielzimmer auf dem Dachboden. Dort hatte Vatl uns auch einen Haken im Türrahmen befestigt, an den er eine Kastenschaukel hing, in die allerdings nur noch Konrad hinein passte. Worauf ich öfter etwas neidisch war, da ich auch gerne geschaukelt hätte, aber mittlerweile war ich schon zu groß für den Schaukelkasten.

Mein erstes Fahrrad
Ich kann mich daran sehr gut erinnern, dass ich in diesem Sommer das Fahrradfahren lernte. Zum 6. Geburtstag bekam ich mein erstes eigenes Kinderfahrrad, worauf ich natürlich sehr stolz war. Jedoch musste ich mich, da ich im Januar Geburtstag hatte, noch bis zum nächsten Sommer gedulden, bis ich alleine in die Schule fahren durfte. Auch wenn das Fahren schon klappte, brauchte das Üben mit dem Auf- und Absteigen und somit das sichere Fahren seine Zeit. Diese lange Übungsphase brachte mir oft zerschundene Knie.
Die nächste Erinnerung, die noch in meinem Gedächtnis ist, ist die, als ich eines Tages in unserem Hof mit meinem Fahrrad in die vom Schreiner frisch gestrichenen Stühle fuhr, die zum Trocknen in der Sonne standen. Mein einziges Glück war, das ich nicht den Farbtopf, der die weiße Farbe für die restlichen Stühle enthielt, mit umschmiss. Trotzdem tobte der Schreiner vor Wut, da nun seine ganze Arbeit umsonst gewesen war, denn die frisch gestrichenen Stühle lagen nun im feinen Sand unseres Hofes. Auch mein Vater war von dem Tagesgeschehen wenig begeistert und bestrafte mich, indem ich mein Fahrrad nur noch in Begleitung eines Erwachsenen benutzen durfte und das, obwohl meine offenen Beine und Arme, meiner Meinung nach, schon genug Strafe waren.
Auch weiß ich noch, dass umso enger die Freundschaft zwischen Dorchen Krömer und mir wurde, sie immer öfter mit ihrem Fahrrad zu mir nach Hause in den Wald gefahren kam, weil wir hier viele Plätze für unsere Spiele fanden. Entweder gingen wir ein Stück in den Wald hinein oder wir spielten in unserem schönen großen Garten. Ich weiß noch, wie wir mit ca. 7 Jahren - wir konnten schon lesen - einmal mit den Fahrrädern einen Wanderweg, St. Hubertus, so hieß der Weg, tiefer in den Wald hinein fuhren, bis wir zu einer Lichtung kamen, auf der ein Tisch mit einer Bank stand. Wir wollten uns von der Fahrt etwas ausruhen und auf die Bank setzen. Als wir uns dem Tisch näherten, sahen wir auf diesem zwei wunderschöne Äpfel liegen, die aussahen als seien sie gemalt und natürlich konnten wir ihnen auch nicht widerstehen. Wir setzten uns gemütlich hin und aßen die Äpfel genüsslich auf. Als wir wieder aufstanden und uns auf den Heimweg machen wollten, sahen wir, dass auf dem Tisch geschrieben stand: "Diese Äpfel sind vergiftet!".
Dieser Satz versetzte uns in solche Panik, dass wir ohne irgendwelche Umwege nach Hause zu meiner Mutter fuhren, um ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Meine Mutter war jedoch weniger verängstigt, sondern eher verärgert, da sie die Situation durchschaute und wusste, dass uns ein paar Nachbarjungs von Dorchen einen Streich gespielt hatten. Wahrscheinlich haben sie uns sogar aus den Büschen raus beobachtet, als wir die Äpfel aßen und sich darüber lustig gemacht.


Mit unseren Fahrrädern waren wir mittlerweile so viel unterwegs, dass wir auch in das nahe gelegene gräfliche Vorwerk Waldhof (verschwunden) fuhren, um unsere Klassenkameradin Rosa Napierala zu besuchen. Außerdem wohnten dort noch mehr Kinder mit denen wir spielen konnten. An einem Tag wollten wir wieder einmal dorthin fahren, doch ich sollte an diesem Tag auf meinen kleinen Bruder aufpassen. Da ich aber trotzdem mit nach Waldhof fahren wollte, nahm ich Konrad auf dem Fahrrad einfach mit. Das war ein großer Fehler, ich wäre besser mit ihm zu Hause geblieben, aber nachher ist man immer klüger. Als wir bei Rosa im Garten spielten und ich ein paar Minuten nicht auf Konrad achtete, aß er, wie wir nachher erfuhren Stachelbeeren, die mit Mehltau befallen waren. Zunächst fiel uns das auch nicht weiter auf, erst als wir etwas später als mit unserer Mutter vereinbart nach Hause kamen, wurde es Konrad plötzlich so schlecht, dass er alles erbrach, was er im Magen hatte. Doch das eigentlich Schlimme war, dass er hauptsächlich grünen Schaum erbrach. Ich zitterte und fühlte mich schuldig, dass ich nicht gut auf ihn aufgepasst hätte.
Mein Vater fuhr schnell mit dem Fahrrad ins Dorf, um von der Post aus den Arzt zu konsultieren. Der Arzt war zu dieser Zeit einiger der wenigen, der schon ein Auto fuhr, damit er immer schnell kommen konnte. Das war auch unser Glück, denn als der Arzt kam und das Erbrochene von Konrad sah, wusste er gleich, dass dies eine Vergiftung war. Doch zum Glück konnte er ihm direkt helfen, so dass Konrad schon am nächsten Tag besser ging. Er musste zwar noch einige Tage unter der Beobachtung einer Krankenschwester im Bett bleiben, war aber, vor allem zu meiner Freude, wieder rasch genesen. Ich kann niemandem beschreiben wie mir zu Mute war. Als er schließlich wieder so gesund war, dass er mit uns spielen konnte, ließ ich ihn nicht eine Sekunde mehr aus den Augen; das war eine Lektion fürs Leben. Somit kehrte die gute Laune wieder bei uns ein.
Im Herbst, wenn im Wald die bunten Blätter von den Bäumen fielen, kamen alle Leute aus dem Dorf, um diese zu großen Haufen zusammen zu rechen, damit die Bauern sie zum Einstreuen in die Stallungen fahren konnten. Wir Kinder sprangen, wie schon oben gesagt, genauso wie das wahrscheinlich jeder aus seiner Kinderzeit kennt, in die großen Laubhaufen. Dorchen Krömer war auch dabei, jedoch musste sie ja jeden Abend noch alleine nach Hause fahren. Immer fiel es uns schwer uns zu trennen und das, obwohl wir uns am nächsten Morgen ja in der Schule schon wieder sahen. Ich war stets glücklich, wenn ich mit den Kindern aus dem Dorf und besonders mit Dorchen spielen konnte. Ich beeilte mich schon direkt nach dem Essen mit den Hausaufgaben, damit ich schnell fertig war, um länger spielen zu können.
Meine große Schwester war im Gegensatz zu mir eher ruhig. Sie spielte nicht oft draußen mit Kindern in ihrem Alter, sie war meistens zu Hause und las in Büchern.

Die Geburt meiner Schwester Irmgard - Erleben des Sommers
Das nächste Ereignis bei uns im Haus war im Jahre 1938. Genauer gesagt, am 9.6.1938. Dreieinhalb Jahre, nachdem Konrad geboren wurde, kam unsere jüngste Schwester Irmgard zur Welt. Wir waren über Nacht bei der Tochter Ursula (auch sie hatte am 9.6. Geburtstag) unseres Lehrers, Herrn Schneider, geblieben. Doch als wir am nächsten Tag nach der Schule heim kamen, war der Klapperstorch bereits in der Försterei gewesen und die Neugierde war sehr groß. Wir stellten natürlich die Frage, warum Muttl im Bett lag, wenn doch der Storch das Kind gebracht habe. Doch Vatl sagte, dass der Storch die Muttl ins Bein gebissen hätte. In den nächsten Tagen kam eine Frau die Muttl die Hausarbeit abnahm zu uns. Wenn ich jetzt aus der Schule kam, war meiner erster Weg zum Kinderwagen, der im Garten stand, um Irmgard immer wieder erneut zu betrachten.
Auch mein Opa, der in diesem Sommer zu Besuch kam, saß immer im Garten unter der Laube und rauchte dort seine Zigarren. Seit wir zu Hause mit vier Kindern waren, war bei uns immer noch mehr los und vor allem, wenn meine Cousine Gisela und ihr Bruder Erhard in den Ferien zu Besuch kamen, hatten wir immer jede Menge Spaß zusammen. Es gab so viel zu tun, dass seit Irmgards Geburt meine Mutter eine Haushaltshilfe bekam. Während Dorchen und ich der Gisela all unsere Fahrrad- und Wanderwege zeigten, nahm Vatl den Erhard mit auf die Jagd, da dieser sich schon immer dafür interessierte und sich diese Chance natürlich nicht entgehen lassen wollte. Abends kamen wir dann alle müde und hungrig nach Hause und erzählten uns gegenseitig von unseren Erlebnissen.
Hannchen, die ja immerhin drei Jahre älter war, ging zu ihren Schulkameradinnen öfter ins Dorf. Gelegentlich fuhren wir auch zu einer befreundeten Familie namens Feja, die gut 2 km von uns entfernt in Glausche wohnten. Familie Feja hatten eine große Landwirtschaft, eher noch ein kleiner Gutshof, mitten in einer parkartigen Anlage. Wir waren gerne dort und der Weg war nur wenig weiter, wie unser täglicher Schulweg, uns damit keineswegs zu weit. Mit dieser Familie waren auch meine Eltern so gut befreundet, dass wir mit ihnen sogar des Öfteren feierten.
Im Sommer 1938, bekam ich Diphtherie. Doch weil diese Krankheit so ansteckend ist, musste ich zum ersten Mal in meinem Leben alleine in einem Zimmer schlafen und das Alleinesein war noch viel schlimmer als die eigentliche Krankheit. Da die Ferien vor meiner Krankheit zu Ende gingen, musste ich den Schulstoff im Bett lernen. Ich war nun in der 3. Klasse und durfte dort natürlich den Anschluss nicht verpassen.

Während meiner Krankheit sagte ich immer zu Muttl, dass die Schafe Schuld an meiner Krankheit wären. Ich erinnerte mich immer wieder daran, dass ich an dem Tag, an dem ich das erste Mal Halsschmerzen und hohes Fieber bekam, auf dem Nachhauseweg auf der staubigen Straße, eine lange Strecke hinter einer ganzen Schafherde her gelaufen bin. Als ich wieder gesund war und raus durfte, hielt ich mich immer von Schafherden fern, um nicht noch mal so krank zu werden.
Da Hannchen den meisten Teil ihrer Freizeit Irmgard im Kinderwagen herumfuhr, um Muttl zu entlasten, hatte ich außer Konrad niemanden, mit dem ich spielen konnte. Er lernte zwar schnell fangen oder verstecken spielen, aber trotzdem spielte ich des Öfteren alleine Kästchenhüpfen. Während ich mit Konrad spielte und Hannchen mit Irmgard spazieren ging, kümmerten sich meine Eltern, abgesehen von ihrer üblichen Arbeit im Sommer auch um das Ernten und Einkochen von all den Früchten, die es in unserem Garten gab. Auch für diese Arbeit, die sehr aufwändig war, sowohl an Zeit als auch an körperlicher Betätigung, hatte meine Mutter eine Hilfe organisiert, die beim Ernten und Einkochen eine große Hilfe war.

Meine Märchenfrau
Da wir aber mittlerweile vier Kinder waren, für die Muttl sorgen musste, während Vatl im Wald war, kam auch eine Frau, die beim Bügeln, Nähen oder was gerade anfiel, half. Ich mochte diese Frau so sehr, dass ich an den Tagen an denen sie zu uns kam, den ganzen Tag im Haus verbrachte, um mir von ihr Märchen erzählen zu lassen. Ich wusste nie woran es lag, aber es war immer etwas ganz besonderes, wenn gerade sie mir die Märchen erzählte, die ich von meinen Eltern schon hundertmal gehört hatte. Wenn sie eine längere Zeit nicht zu uns kam und ich gerne noch mal ein Märchen hören wollte, überredete ich Muttl so lange, bis ich zu ihr nach Waldhof fahren durfte, um den Nachmittag bei der Frau Swaliwoda zu verbringen. Doch nach einiger Zeit versuchte Muttl mich schon gar nicht mehr umzustimmen, da sie wusste, dass mich kein Argument halten würde, nicht einmal wenn sie sagte, ich könnte doch auch zu Dorchen gehen. Auch wenn Dorchen meine beste Freundin war, aber da wir uns jeden Tag schon in der Schule sahen, hatte sie gegen die "Märchenfrau" keine Chancen. Manchmal hatte ich mit meiner unglaublichen Fantasie nach einem ganzen Märchennachmittag den Gedanken, dass sie selbst aus einem Märchen stammte, da sie einen krummen Rücken hatte.

Weitere Erlebnisse
Der späte Sommer und Herbst kam und die Ernte der Kartoffeln begann. Außerdem mussten auf den Feldern ebenso die Ehren aufgelesen werden. Wenn diese Jahreszeit kam, war das Spielen für uns Kinder vorbei, denn bei der Ernte mussten wir alle helfen.
Oft war ich bei Dorchen zu Hause, denn diese war eines der wenigen Kinder, die eine Schaukel im Garten hatte und ein großes Puppenhaus. Da diese Sachen aus Holz gefertigt wurden, waren sie zu dieser Zeit sehr selten. Dorchens Vater war Zimmermann und konnte für das Puppenhaus die schöne Möblierung selber machen. Am besten gefiel mir der Hampelmann, der an Dorchens Bett hing.
Mir gefiel es ebenfalls mit Dorchen durch die Straßen von Kaulwitz zu laufen und mir anzusehen, wo die einzelnen Kinder aus unserer Schule wohnten. Bisher kannte ich lediglich das Leben im bzw. am Wald.
Ein weiteres Erlebnis war es immer im Sommer baden zu gehen! Die Weide bildete an einer Stelle eine Einbuchtung, in der wir baden gingen. Wegen vieler kleiner Strudel galt es als gefährlich dort zu schwimmen. In diesem Sommer lernte ich viele Kinder kennen, mit denen ich sehr viel Spaß hatte, und die mich sogar ein paar Mal bei mir zu Hause im Wald besuchen kamen.
Des Weiteren erinnere ich mich an einen wunderschönen Sommer im Jahr 1939. Ich weiß noch ziemlich genau, immer wenn es längere Zeit nicht regnete, so dass der Waldboden getrocknet war, gingen alle Schulklassen aus dem Dorf in den Wald spazieren. Früher sah ich wie all die Kinder an unserem Haus vorbei gingen und dabei lachten und redeten. Ich hatte mich somit schon immer darauf gefreut, endlich selbst eines dieser Schulkinder zu sein. Am schönsten fand ich die Pause, die wir vor unserem Haus einlegten, da Muttl immer Becher mit Getränken für alle Kinder und die Lehrer hinstellte. Wir liefen auch durch das ganze Gebiet des Grafen, welches groß, schön und in unserem Dorf sehr bekannt war. Der Chef, Georg, wohnte in Grambschütz, im Kaulwitzer Schloss seine Mutter, sein Bruder Alfred (1941 in Russland gefallen) und seine Schwester Marie Eleonore.

Der Krieg steht an der Grenze und überschreitet sie
Ich erinnere mich an das Jahr 1939 noch ziemlich genau, weil ich spürte, dass die Erwachsenen unruhiger wurden, da sie immer öfter darüber redeten, wann der Krieg kommen würde. Ich konnte mir zwar noch nicht viel darunter vorstellen, doch selbst wir Kinder merkten, dass immer mehr Jungen, die noch nicht alt waren, zur Musterung mussten. Auch darunter konnte man sich als Kind in meinem Alter noch nicht viel vorstellen, doch später erklärten uns unsere Eltern selbstverständlich alles was wir wissen wollten.


Vatl begann sich nach einer größeren und selbständigen Försterstelle umzuschauen. Sollte seine Dienststelle eingespart werden? Sicher aber wäre er eingezogen worden, denn der Kaulwitzer Wald (100 ha) war nicht groß genug für eine Person. Ich war damals natürlich viel zu klein, vielleicht acht Jahre alt, um das zu wissen.
Dazu kam, weil wir ganz nah an der polnischen Grenze wohnten, hörten wir eines Abends unsere Soldaten Richtung Grenze marschieren. Auch wenn keine Schüsse fielen, hatten wir große Angst, da wir wussten was passieren würde.
Schon ein paar Tage später kamen die ersten Nachrichten von gefallenen Soldaten, auch von Gefallenen aus unserem Dorf; die Atmosphäre wurde immer schlimmer. Graf Georg wurde schon in den ersten Wochen schwer verwundet. Das war das endgültige Zeichen, dass wir umziehen mussten. Vatl kümmerte sich so schnell wie möglich um eine neue Stelle und tatsächlich konnte er ab dem 1.1.1940 in einer Försterei in Oberschlesien anfangen.

Der Umzug zur Försterei in Wiersbie im ehemaligen Oberschlesien steht bevor
Doch nachdem es beschlossene Sache war, dass wir umziehen würden, schien die Zeit doppelt so schnell umzugehen, wie sonst. Auf einmal war es schon Winter, die Zeit rückte auch immer näher. Wir besuchten in den letzten Monaten das Grab von Valentin immer öfter, da wir dort nach unserem Umzug sicher nicht oft sein konnten. Ich erinnere mich noch genau an den knienden Engel auf seinem Grab. Auch an meine inneren Gefühle erinnere ich mich noch genau. Allein die Traurigkeit, da wir wussten, dass nichts mehr so sein würde wie es war. Auch der Gedanke alles verlassen zu müssen, unseren wunderschönen Garten, die Tiere, mein liebes Dorchen, ließ Tränen in meinen Augen aufsteigen. Muttl sagte zum Trost immer, dass wir zum anderen auch gespannt sein müssen auf das Leben das vor uns lag. Auch Vatl tröstete mich immer wieder indem er sagte, dass ich in den Sommerferien selbstverständlich immer wieder hier her zurückkommen könne, um Dorchen zu besuchen, um mit ihr die Ferien zu verbringen. Ich erinnere mich, dass ich mich öfter gefragt habe, ob Vatl und Muttl Kaulwitz nicht vermissen würden, denn sie wussten doch auch nicht, was uns erwartete in unserer zukünftigen Umgebung, in einer völlig anderen Landschaft und unter polnisch sprechenden Menschen (die "andere Landschaft" war der Teil Oberschlesiens, der 1922 nach dem Versailler an Polen abgetreten werden musste. 1939 kam er wieder zu Deutschland).
Am 3.12.1939 feierten wir Konrads vierten Geburtstag. Es war der letzte Winter, den wir in Kaulwitz erlebten, und so kam einem alles noch schöner vor, als in den vorhergehenden Jahren. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass man nirgendwo einen Wald finden würde, der mit Schnee bedeckt, so bezaubernd aussah wie unser Kaulwitzer Wald.
Der Ort in dem wir schon bald leben würden hieß Wiersbie und Vatl hatte bis zum ersten Advent den schon baldigen Umzug organisiert. Er hatte den Ort bereits einmal aufgesucht, um uns berichten zu können was uns erwartet. Ich fragte Vatl immer wieder wie es dort aussah und er erzählte von mehreren Fischteichen, da es dort eine Fischzucht gab. Ich verwandelte seine Worte schnell in Bilder, die ich versuchte in meinem Kopf festzuhalten. Diese Bilder schossen mir abends durch den Kopf, wenn ich im Bett lag und ich versuchte es mir so schön wie möglich auszumalen.
Wiersbie / Wiersbie, Kr. Lublinitz (Loben) / Lubliniec, Bez. Oppeln / Opole, gehörte 1873 einem Wilhelm Mether. Ein Betrieb mit 312 ha Acker, 70 Wiesen, 220 Wald, 5 Wasser. Neuere Daten fanden sich nicht.
Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug und neben unseren täglichen Aufgaben, die jeder zu erledigen hatte, mussten wir uns auch mit dem Verpacken von unseren Sachen beschäftigen. Und dann war da ja auch noch Weihnachten. Unser letztes Weihnachtsfest, das wir in Kaulwitz feiern würden, in unserem schönen Haus, mit dem wir so viele schöne und traurige Erinnerungen verbanden. Dieses Weihnachtsfest sollte etwas ganz Besonderes sein und musste daher gut geplant werden. Um den Weihnachtsbaum mussten wir uns schon mal keine Sorgen mehr machen, da Vatl diesen schon in den Schuppen zum Trocknen gestellt hatte.
Doch obwohl wir uns eigentlich über all unsere Geschenke, an die ich mich noch wie heute erinnere, freuen sollten, hing ein dunkler Schatten über den Feiertagen. Jede Ecke der Wohnstube wies daraufhin, dass dies unser letztes Weihnachten sein würde. Denn in jeder Ecke standen mehrere Kisten gestapelt, in die Muttl bereits die Sachen verpackt hatte, die wir nicht mehr zwingend brauchten. Wir verbrachten einen wunderschönen Weihnachtsabend. So wie jedes Jahr fand in der Zeit vor Weinachten im Schloss eine Einbescherung statt. Im Laufe des Nachmittags kam die Gräfin in einem Plauwagen zu uns vor die Tür und brachte für uns Kinder schöne Geschenke. Sie wünschte uns viel Glück in unserer neuen Heimat und Vatl unterhielt sich noch etwas mit ihr. Es war ein Abschiedsgespräch. Vatl ging dann noch mit zum Wagen, ich erinnere mich an einen weißen Pelzmantel, an ein herzliches Lächeln.



Der Abschied von unserer Heimat Kaulwitz - Das Eingewöhnen in Wiersbie
Eh wir uns versahen ging das Jahr 1939 zu Ende und die Bahn holte unsere Möbel und das restliche Inventar. Es gelang uns alles was noch im Haus war an einem Tag wegzuschaffen. Nur wir blieben noch eine letzte Nacht in Kaulwitz. Muttl schlief mit Konrad und Irmgard bei Bekannten. Ich durfte meine letzte Nacht bei Dorchen bleiben, damit wir alleine Abschied nehmen konnten. Am nächsten Morgen ging alles sehr schnell. Wir wurden mit einem Schlitten zum Bahnhof nach Namslau gefahren, wo wir auf den Zug warteten. Einmal mussten wir umsteigen und dann ging es schon weiter. Mittlerweile kreisten meine Gedanken mehr darum, dass Vatl gesagt hatte, dass alles anders sei, als darum, dass es sehr schön wäre. Doch mitten in meinen vielen Gedanken schlief ich ein und wurde erst wieder wach, als Hannchen mich weckte und ich merkte, dass der Zug langsamer wurde.
Als wir auf dem Bahngleis standen, war niemand da, der auf uns wartete. Doch nach ein paar Minuten, kam dann eine Kutsche. Zuerst wurden wir zu dem Gutshof gefahren, bei dem Vatl nun angestellt war. Als wir dort ankamen, war ein Tisch mit Essen gedeckt, wir konnten uns mit einer warmen Mahlzeit stärken. Die Gräfin aus Sodow, ihr Name klang polnisch, etwa: "Jameika von Hütepetriko", ich habe ihn nur ein/zwei Mal gehört, empfing uns sehr herzlich und berichtete, dass Vatl schon die ganze Zeit am Einräumen und Auspacken sei, um unser zu Hause so schön wie möglich zu gestalten. Nachdem wir also nach der langen Zugfahrt ordentlich gegessen hatten, wurden wir zur Försterei gefahren.
Sodow, etwa 1.200 ha, lag im gleichen Landkreis wie Wiersbie, es gibt wieder nur Angaben von 1873. Vielleicht hatten die Besitzer von Sodow das Gut Wiersbie inzwischen gekauft.
Mein erster Eindruck war sehr gut. Ich weiß zwar mittlerweile nicht mehr, ob es der Eindruck der Wohnung war oder nur der, dass alles geheizt war, denn durch die lange Kutschfahrt war ich sehr durchgefroren. Natürlich fing ich, so war ich eben veranlagt, sofort an alles zu erkunden. Ich durfte zwar noch nicht alleine raus, da die vielen Seen sehr gefährlich sein konnten, aber das machte mir nicht so viel aus, da es ja sowieso draußen sehr kalt war und ich froh war im Warmen zu sein. Außerdem musste ich ja auch erst mal das Haus kennen lernen und da ich noch eine Woche Zeit hatte bis die Schule begann, ließ ich mir damit viel Zeit.
Nach und nach fanden all unsere Sachen einen Platz. Zuerst kümmerten wir uns natürlich darum, dass unsere Tiere einen Platz fanden. Ich erinnere mich noch genau, dass die Hühner einige Zeit zum Eingewöhnen brauchten. Sie gackerten in der ersten Zeit die Nächte durch und liefen ganz aufgeregt durch die Gegend. Auch die Hunde waren anfangs sehr irritiert und so kamen sie ab und zu in die Küche damit sie sahen, dass wir alle noch da waren.
Um zu unserer Haustür zu kommen, musste man ein paar Stufen durch einen Laubeneingang hoch gehen. Wenn man dann durch unsere Haustür hindurch ging, stand man in einem kleinen Korridor, von dem rechts und links Zimmer abgingen. Die erste Tür auf der rechten Seite führte in die Küche, von wo aus man in ein großes, auch warmes Zimmer gelangte, in welchem wir uns die meiste Zeit aufhielten. Trotzdem fand ich es in der Küche noch behaglicher, da es dort so schön warm war. Den aus Ziegeln gemauerten Ofen in der Ecke fand ich so schön, dass ich an kalten Wintertagen, wie zu dieser Zeit, stundenlang davor gesessen bin.
Auf der linken Seite wiederum führte die erste Tür ins gute Zimmer und die zweite ins Schlafzimmer. Am Ende des Korridors befand sich wieder eine Ausgangstür, durch die man in den vorderen Teil des Gartens gelangte. Diese Tür hatte Vatl abgeschlossen, damit wir nicht dort hinaus laufen konnten, denn es schneite immer noch ohne Pause. Von dieser Tür aus konnte man auch einen der vielen Teiche sehen, die nur zur Hälfte zugefroren waren.
Die Ferien neigten sich dem Ende zu und ich bereitete mich darauf vor, jeden Morgen nach Ost-Wiersbie zu laufen, wo die Schule war. Ost-Wiersbie war 4 km entfernt und der Unterricht begann um 8.00 Uhr morgens. Doch nach einiger Zeit, als ich die Gegend schon etwas kannte, fand ich eine Abkürzung, die zwar durch den Wald und über eine Wiese ging, jedoch 2 km kürzer war. Ich weiß noch, dass ich meinen Eltern immer sehr dankbar war, weil entweder Muttl oder Vatl mich durch den Wald, bis an den Rand des Dorfes hin, begleiteten. So musste ich nicht alleine durch die Dunkelheit gehen die, obwohl es schon Tag wurde, mir immer noch undurchdringlich schien.
In der Schule verstand ich fast nichts. Während den Pausen sprachen die Kinder untereinander nur polnisch und im Unterricht sehr gebrochenes deutsch, was ich auch nur schwer verstehen konnte. Außer der Sprache fiel mir auf, dass die Schulräume mit einem Ofen geheizt wurden. Unser Lehrer hieß Herr Proske und er wohnte mit seiner Familie im Schulgebäude. Das war ein Glück für mich, weil ich so meine Schuhe, die nach dem langen Hinweg durchnässt und einzige Eisklötze waren, bei Frau Proske an den Ofen legen konnte, so dass sie für den Rückweg wenigstens wieder halbwegs trocken waren. In der Schule saß ich dann immer nur mit Hausschuhen.
Hannchen ging auch noch in die Schule, jedoch besuchte sie ein Gymnasium in Koschentin / Kozecin, das war eine Stadt, 5 km von unserem Haus entfernt. Zum Glück musste sie nicht den ganzen Weg laufen, ein Postauto nahm Hannchen den größten Teil des Weges mit. Diese Stadt
war Okkupationsgebiet und daher erst seit ein paar Wochen in deutscher Verwaltung. Das bedeutete natürlich für Hannchen, dass sie es nicht einfacher hatte als ich, da dort ebenfalls alle polnisch sprachen.

Eine neue Umgebung - Neue Erfahrungen
Muttl hatte immer noch sehr viel zu tun, da sie sich zum einen darum kümmern musste, dass das Auspacken und Einräumen unserer Sachen ein Ende fand, damit unsere Wohnung wohnlich wurde. Zum anderen musste sie eine Haushaltshilfe einstellen, die ihr künftig, wie auch in Kaulwitz, beim Waschen, Kochen, Bügeln oder was sonst gerade anfiel, half. Neben aller Hausarbeit musste sie natürlich auch auf Konrad und Irmgard achten. Durch den langen Schulweg den Hannchen und ich nun jeden Tag gehen mussten, konnten wir nur noch selten den ganzen Nachmittag auf die beiden aufpassen. Dazu kam noch, dass Muttl die beiden Jüngsten in Kaulwitz einfach in den Garten lassen konnte, damit sie dort zusammen im Schnee spielten; doch hier war das nun anders. Einer der vielen Teiche in dieser Gegend, der hinter unsrem Haus lag, war nur halb zugefroren und daher sehr gefährlich. Die Tatsache, dass dort früher schon zwei Kinder ertrunken waren, beunruhigte meine Mutter verständlicher Weise noch mehr.
Alle atmeten auf, als es ein paar Wochen später mit dem Winter endlich aufhörte und es wärmer zu werden schien. Zunächst wussten wir nicht, ob es uns nur wärmer vorkam, da wir uns den Frühling so sehnlich herbei wünschten oder ob es tatsächlich so war. Doch als ich eines Nachmittags nach Hause kam und ein Schneeglöckchen in unserem Vorgarten sah, besserte sich meine Laune schlagartig. So schnell wie der Winter noch in Kaulwitz gekommen war, ging er auch hier wieder und brachte den Frühling direkt mit. Alle hatten bessere Laune und nun machten wir uns daran unser Grundstück zu entdecken, da man nun alles überblicken konnte. Der Vorgarten war mit weißen Steinen abgegrenzt, auch der Weg der zum Teich führte und überall, sah man nun Blumen in allen erdenklichen Farben erblühen. Ich hatte das Gefühl, dass mich das bloße Aufblühen der einfachen Frühlingsblumen sehr froh machte. Jetzt wo der Winter und die Kälte weg waren, schien mir alles viel leichter zu fallen. Auch in der Schule wurde es leichter mich mit den anderen zu verständigen, es klappte sogar so gut, dass ich mit zwei Mädchen aus meiner Klasse die Hälfte meines Schulweges zusammen ging. Natürlich vermisste ich Dorchen sehr, aber wir schrieben uns immer lange Briefe, in denen wir uns alles erzählten. Außerdem schmiedeten wir sogar schon Pläne, was wir unternehmen würden, wenn ich in den großen Ferien zu Besuch nach Kaulwitz fahren würde. Mittlerweile lernte Muttl unsere Haushilfe an. Da diese erst 16 oder 17 war, hatte sie noch viel zu lernen, aber wir mochten sie sehr gerne und sie fühlte sich bei uns so wohl, dass sie nur manchmal am Wochenende nach Hause fuhr. Ansonsten wohnte sie bei uns, als ob sie zu unserer Familie gehörte.
Nachdem ich unser Grundstück und das umliegende Gelände erforscht hatte, ging ich immer für Muttl in den Wald wo ein Brunnen stand, aus dem ich Wasser für sie holte. Da Konrad mit seinen vier Jahren nun auch schon die Gegend erkunden wollte, lernte er einen Jungen kennen, der mit seinen Eltern und seinen anderen Brüdern in einem kleinen Haus im Wald wohnte. Muttl machte sich immer Gedanken, wenn Konrad mit diesem Jungen unterwegs war, da dieser erstens älter und zweitens mehr gewohnt war, weil er nur unter Jungen aufgewachsen war. Doch nicht Konrad war eines Abends verschwunden, womit Muttl schon mehr oder weniger gerechnet hatte, sondern es fehlte Irmgard. Alle liefen das umliegende Gelände ab, riefen und suchten überall, bis wir sie schließlich schlafend im Ziegenstall hinter einem Heuballen fanden. Wir waren sehr erleichtert.
Muttl hatte seit wir umgezogen waren keine ruhige Minute mehr. Sie machte sich einfach zu viele Sorgen, dass irgendeinem von uns etwas passieren könnte. Schon im späten Frühling bekam ich mit, wie Muttl den Vatl bat, sich nach einer neuen Stelle umzusehen, da ihr dieses Gelände für die vier Kinder einfach zu gefährlich war.
In der Schule wurde es für mich zunehmend schwerer, da wir nun lateinisch schrieben und mir die Umstellung doch sehr schwer fiel. Zumindest schwerer als den polnischen Kindern, da diese schon lateinisch geschrieben hatten.
In D war bis 1941 "Sütterlin" die Standardschrift (entwickelt von Ludwig Sütterlin), ab 1942 dann "lateinisch".
Umso mehr ich lernte, umso besser konnte ich mich auch mit den anderen Kindern verständigen. Ich ging nun sogar des Öfteren ins Dorf um ein paar Mädchen zu besuchen. Zu meiner großen Verwunderung sprach die Großmutter des einen Mädchens sehr gut deutsch. Sie erzählte mir, dass dieser Teil früher schon einmal deutsch gewesen war und dass es für sie jetzt schon das zweite Mal wäre in Deutschland zu wohnen (bis 1919, ab 1939), obwohl sie nie umgezogen sei.
Die Zeit verging und es wurde Mai, was bedeutete, dass sich das Leben in all den Teichen entfaltete. Für uns hieß das, dass wir abends mit dem Quaken der unzähligen Frösche, die am Teichrand saßen, einschliefen.
Mit zu unserem Grundstück gehörte ein Pferd mit einer Kutsche, die uns die Gräfin geliehen hatte. Das Pferd stand in den dafür vorgesehenen Stallungen, in denen genügend Futter für all unsere Tiere
vorhanden war. Eines Tages kam der Sohn der Gräfin auf das Grundstück, wies meine Mutter in ziemlich forschem Ton zurecht, wobei er sie gleichzeitig aufforderte, sein Pferd wieder herzugeben. Meine Mutter war nach diesem Vorfall ziemlich böse, da das Pferd laut Vertrag uns gehörte, solange wir dort wohnten und außerdem war es unsere einzige Möglichkeit ins Dorf zu kommen, wenn man mal von Fußmärschen absah. Einige Zeit später erfuhren wir, dass er ein Nazi war und im Militär sogar einen ziemlich hohen Rang hatte.
Vatl arbeitete immer mehr. Nicht nur die Holzarbeit, sondern vor allem die Fisch-Bassins hielten ihn ganz schön auf. Einmal hatte Vatl uns mitgenommen, um uns alles zu zeigen, was er zu tun hatte. Es waren vier Teiche, jeweils getrennt durch ein kleines Waldstück. Das Wasser musste in bestimmten Zeitabständen durch Schleusen abgelassen werden. Wir merkten, dass ihm die Arbeit nicht sonderlich gefiel und dass er nur nicht klagte, weil er uns Kindern, vor allem Konrad als Jungen, ein Vorbild sein wollte. Doch ich erinnerte mich noch gut daran, wie sehr er in Kaulwitz, wenn er aus dem Wald gekommen war, von der Arbeit mit den Tieren geschwärmt hatte. Da wir diese Geschichten vermissten, fragten wir abends immer, doch es war nicht mehr so wie früher.

Geheimnisvolle Entdeckungen und Erlebnisse
Mir wurde es jedoch so schnell nicht langweilig. Vor allem als uns Gisela, eine Freundin aus Jena, die Ferien über besuchte, hatten Hannchen und ich mit ihr sehr viel Spaß. Da es mittlerweile Sommer geworden war, durften wir mit ihr sogar in dem Paddelboot, das am Rand fest gemacht war, über den Teich rudern. Auch wenn wir nicht sehr weit hinaus durften, weil dort Strudel und Wasserschlangen waren, konnten wir an ein schräg gegenüberliegendes Ufer paddeln, um dort neue Entdeckungen zu machen. Obwohl ich mittlerweile neun Jahre war, hatte ich immer noch eine starke Fantasie, die mir Entdeckungen nur noch spannender machten. Wir banden das Boot an dem Pfahl auf der anderen Seite fest und zogen los.
Da Gisela vor uns Ferien hatte, waren die ihrigen bereits vorbei als unsere begannen. Mit Muttl brachte ich sie zum Zug. Als sie aus dem Zugfenster lehnte weinte sie und winkte uns zum Abschied. Ich versuchte sie so lang wie möglich zu sehen, doch dann bog der Zug um eine Kurve und fuhr aus dem Bahnhof hinaus. Als Muttl und ich nach Hause kamen, war alles ungewohnt still für mich. Ich ging hinunter zum Teich und setzte mich auf einen Holzverschlag, so dass ich die Füße ins Wasser hängen lassen konnte. In der letzten Zeit hatte ich länger nicht hier gesessen, da ich meistens nur her kam, wenn ich traurig oder nachdenklich war. An diesem Tag war ich beides.
Zum einen, da Gisela wieder weg war und ich somit mehr oder weniger wieder allein war. Zum anderen, immer wenn ich mich alleine fühlte, wollte ich zu Dorchen gehen, doch dann fiel mir ein, dass das nicht möglich war. An Dorchen musste ich sowieso sehr oft denken, da ihr letzter Brief noch auf meinem Nachtisch lag und sie in diesem erzählte, dass ihr Vater zum Militär eingezogen wurde. Selbst ich als Kind, hatte zu dieser Zeit öfter den Zerfall von Familien durch den Krieg mitbekommen, doch hätte ich nicht gedacht, dass es so schnell auch Menschen treffen konnte, die ich mochte.
Auch wenn ich in Wiersbie noch nicht so viele Familien kannte, wusste ich, dass es hier nicht anders aussah. Allein die Gespräche im Dorf oder in der Schule, von denen man nur Bruchstücke mitbekam, zeigten, dass auch hier Trauer und Verzweiflung die Familien überkam. Dorchen hatte außerdem geschrieben, dass sie eine neue Lehrerin bekommen hatten, da einer unserer Lehrer ebenfalls eingezogen worden war. Es war der katholische Lehrer Georg Schneider. Also wo man hinkam, nirgendwo war man sicher. Leider musste ich diese Erfahrung schon viel zu früh machen. Doch zum Glück blieb mir wenigstens ein Wochenende in den Ferien, an dem Muttl mit mir zu Dorchen fahren wollte. Ich freute mich schon sehr darauf, denn das ständige Warten auf eine Antwort war für mich schrecklich. Ich wartete schon beim Abschicken des Briefes auf eine Antwort und eine Woche kam mir immer wie eine Ewigkeit vor.

Noch einmal ein Wiedersehen mit meiner Freundin Dorchen
Doch endlich kam der Tag, an dem wir nach Kaulwitz fuhren. Da Kinder unter fünf Jahren ohne Fahrkarten mitfahren durften, waren außer Muttl und mir, auch meine Geschwister Konrad und Irmgard dabei. Der Empfang war riesig. Alle freuten sich uns wieder zu sehen und ich freute mich sowohl die Leute, als auch die Umgebung wieder zu sehen. Mein geliebtes Kaulwitz, nichts hatte sich verändert, ich fühlte mich als ob ich nie weg gewesen wäre. Wir fuhren den ganzen Tag mit dem Fahrrad herum, damit ich noch mal alles sah, bis wir irgendwann auch zu unserer Försterei hinaus kamen. Ich stieg von meinem Rad ab und fühlte mich wie in einem Traum. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde. Ich wollte, wenn ich mit dem Fahrrad auf unseren Hof fuhr, dass mir unsere Hühner entgegen kamen, ich unsere Hunde bellen hörte, dass die Blumen im Garten blühten und Muttl im Garten Johannisbeeren pflückte. Es sollte einfach alles so sein wie früher und alles andere ein böser Traum. Doch die harte Realität holte mich schnell zurück. Ich stand vor unsrem Garten, er war völlig herunter gekommen. Es hatte fast nicht mehr den Anschein, dass sich überhaupt jemand um das
Grundstück kümmerte. Doch Dorchen erzählte mir, dass die jetzigen Bewohner sehr alt seien und nicht mehr in der Lage, alles so in Schuss zu halten. Nachdem ich ein paar Minuten da gestanden und in Erinnerungen geschwelgt hatte, fuhren wir weiter.
Wir fuhren und fuhren, bis wir bei Familie Feja in Glausche ankamen. Eine Familie mit deren Kindern wir oft gespielt hatten. Maria war sogar zu Hause und lud uns zu einem Stück Kuchen ein. Sie erzählte, dass auch ihre Brüder eingezogen wurden und dass sie als Ersatz, für die Feldarbeit, Kriegsgefangene aus Frankreich bekommen hatten.
Die restliche Zeit, die uns verblieb, gingen wir verschiedene Leute besuchen, sie luden uns zum Essen oder zum Kaffee ein. Außerdem besuchten wir natürlich Valentin auf dem Friedhof. Seine Patentante, Frau Quak, kümmerte sich weiter um sein Grab, deswegen blühten dort auch wunderschöne Blumen und das, obwohl es ein sehr heißer Sommertag war. Dorchen und ich schliefen fast die ganze Nacht nicht, sondern wir redeten und redeten über alles, was uns einfiel. Als es Zeit zum Abschiednehmen wurde, schlug ich vor, dass Dorchen uns auch einmal mit ihrer Mutter besuchen kommen solle. Doch diese Idee gefiel Dorchens Mutter nicht, denn sie meinte sofort, dass
wir dafür erst das Kriegsende abwarten müssten, jetzt sei es viel zu gefährlich. Als wir heimkamen erwarteten uns Hannchen und Vatl schon sehnsüchtig Bahnhof.

Wieder neue Entdeckungen - der Schuster spielt Mandoline - ein blutüberströmter Mann
Das Leben ging weiter wie gewohnt, nur dass wir jetzt Ferien hatten und ich mich deswegen die meiste Zeit um Konrad und Irmgard kümmerte. Dies wurde allerdings mit der Zeit zunehmend schwerer, da die beiden ihre eigenen Ideen hatten und deswegen ab und an einer von beiden verschwunden war. So mussten alle losgehen, um sie zu suchen.
Eines Tages reiste mein Opa an, der für zwei Wochen auf Besuch bleiben wollte. Darauf hatte ich mich schon seit der Rückkehr von dem Besuch bei Dorchen gefreut, da ich meinen Opa sehr gerne mochte und während den Ferien hatte ich auch genug Zeit, seine Anwesenheit zu genießen. So war die Zeit mit meinem Opa immer etwas Besonderes. Wir machten mit ihm Wanderungen, die jedes Mal wie ein kleines Abenteuer für uns waren. Wir gingen immer abseits der Wege und Opa dachte sich schöne Geschichten aus über die Plätze, die wir sahen. Außerdem lernten wir unterwegs stets etwas Neues. Ich weiß noch, dass er uns einmal erklärte, wie wir uns verhalten sollten, wenn wir einer Schlange begegneten. Kurz, bei uns war immer etwas los.
Nachdem Opa wieder heimgefahren war, fehlten mir die täglichen Unternehmungen so sehr, dass ich oft alleine etwas unternahm. In dieser Zeit fuhr ich oft mit dem Paddelboot auf dem Teich umher. Gerne fuhr ich dabei bis an das andere Ufer, wo im Schilf viele bunte Blumen blühten. Die konnte ich mir stundenlang betrachten, bis ich eines Tages, als ich wieder einmal verträumt in meinem Boot saß, an meinem Paddel eine Schlange entdeckte. Ich schlug vor Aufregung das Paddel ins Wasser, um die Schlange abzustreifen. Opa hatte mir zwar beigebracht wie ich mich zu verhalten hätte, wenn ich eine Schlange an Land treffe, doch von einer Situation im Wasser war nie die Rede gewesen.
Nach diesem Erlebnis, hatte ich erst einmal genug von meinen Alleingängen. Also überredete ich Hannchen mir ihren morgendlichen Schulweg durch den dunklen Tannenwald zu zeigen. Das hätten wir besser gelassen. Vatl hatte uns schon vor einiger Zeit erzählt, dass in der letzten Zeit des Öfteren von verschiedenen Leuten ein Hund mit Schaum vor der Schnauze gesichtet wurde. Natürlich musste auch uns dieser Hund begegnen und wir rannten so schnell wir konnten nach Hause. Noch am selben Tag halfen die Leute aus dem Ort dem Vatl den Hund zu finden, damit dieser die Tollwut nicht weiter verbreiten konnte.
Die Zeit verging und trotz der Ferien, ging ich öfter ins Dorf, um ein paar Mädchen aus meiner Klasse zu besuchen, mit denen ich spielte. Da ich also sowieso ins Dorf ging, musste ich manchmal für Muttl ein paar Schuhe mit zum Schuster nehmen. Als ich das erste Mal dorthin kam, hatte ich ein bisschen Angst, da ich den Mann noch nicht kannte. Doch als ich vor seiner Werkstatt stand, hörte ich wie jemand ein schönes Lied auf einem Instrument spielte, das ich nicht sofort am Klang erkannte. Als ich eintrat sah ich, dass es der Schuhmacher selber war, der auf einer Mandoline spielte. Da ich Musik sehr mochte, stand ich ein paar Minuten nur so da und hörte dem Klang der Mandoline zu. Ich merkte gar nicht wie lang ich so dastand, doch es müssen ein paar Minuten gewesen sein. Ich war völlig weggetreten und merkte nicht, dass eine Frau hinter mir stand. Als ich mich zu ihr umdrehte, lachte sie und sagte in ziemlich gutem Deutsch: "Ja, ja, mein Sohn! Der wäre auch besser Musiker geworden, anstatt Schuhmacher." Ich erzählte ihnen, dass ich Musik ebenfalls sehr mochte und dass ich daheim eine Mundharmonika hätte, auf der ich auch ein paar Lieder spielen könne. Der Mann war sehr angetan und meinte, wenn ich die Schuhe für meine Mutter wieder abholte, solle ich die Mundharmonika mal mitbringen, damit wir zusammen spielen könnten.
Als ich aus der Werkstatt heraus kam, freute ich mich schon darauf die Schuhe wieder abzuholen. Doch leider klappte das nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Als ich sie dann holen sollte, kam Muttl mit mir ins Dorf und somit auch mit zum Schuster. Sie war von der Idee, dass ich mit dem Schuster ein Lied spiele, nicht so begeistert. Also musste ich recht schnell wieder gehen.
Die Schule fing wieder an und ich freute mich darauf, alle Kinder aus meiner Klasse wieder zu sehen. Vor allem war der Weg jetzt nicht mehr ganz so schlimm, da ja alles trocken war und es auch schon eher hell wurde.
An einem der ersten Tage passierte etwas, was niemand von uns erwartet hätte. Als Vatl seinen üblichen Rundgang durch den Wald abgeschlossen hatte, hörte er aus einer der Scheunen, die an den Feldwegen standen, ein menschliches Jammern und Stöhnen. Er ging sofort nachsehen und fand in der Scheune einen blutüberströmten Mann, der sich vor Schmerzen kaum mehr bewegen konnte. Er versorgte ihn fürs erste so gut er konnte, brachte ihn dann mit Hilfe eines Waldarbeiters nach Hause und holte einen Arzt. Später erfuhren wir, dass er von einem Trupp Nazis zusammen geschlagen worden war. Von diesem Zeitpunkt an wussten wir, mit wem man es in dieser Gegend zu tun bekommen konnte. Als Dank bekam mein Vater dann ein Kälbchen geschenkt. Auch wenn es für Vatl selbstverständlich war den Mann zu retten, war dessen Familie ihm sehr dankbar; er hätte sonst nicht überlebt.
Der Sommer neigte sich nun dem Ende zu, es begann die Zeit der Gewitter und diese kamen nicht zu knapp. Ich stellte mich gern mit Konrad und Irmgard ans Fenster, obwohl Muttl uns davor gewarnt hatte. So konnten wir die Blitze genau beobachten. Da sich das Wetter nun von einer lauen Sommerbriese in kühlen Herbstwind verwandelte, graute es mir jetzt schon vor meinem Schulweg, der in nur wenigen Monaten verschneit und dunkel sein würde. Im Moment waren es zwar lediglich Nebelschwaden, die mich morgens begleiteten, doch meine Gedanken waren schon bei dem drohenden Winter. Und nicht nur dort waren meine Gedanken, sondern auch bei den Bauern, die ihre Felder auf das kommende Jahr vorbereiteten.

Ein neuer Umzug
Mittlerweile war es November geworden und obwohl wir noch nicht einmal ein ganzes Jahr in Wiersbie lebten, kam Vatl eines Abends nach Hause und verkündete, dass er eine neue Stelle angenommen hätte, bei der er eine Gehaltserhöhung von 50% habe. Sein neuer Forstbereich sollte in Kochanowitz sein, ein Ort der zwar nur 6 km von Wiersbie entfernt war, dessen Försterei dafür aber mitten im Ort lag, so dass der Schulweg nicht länger als fünf Minuten dauern würde. Ich machte nach dieser Ankündigung einen Luftsprung, vor allem, weil es schon im Januar losgehen sollte. Am 3.12. 1940 wurde Konrad 6 Jahre alt, was bedeutete, dass er im folgenden Jahr eingeschult wurde und den Schulweg nicht allein gehen musste.
Kochanowitz / Kochczytz, 1873 Besitzer Rittmeister a. D. Joseph von Aulok, 590 ha Acker, 210 Wiese, 2170 Wald, 45 Wasser. 1940 wurde der Betreib verstaatlicht.
Ich begann sofort einen Brief an Dorchen zu schreiben, der ich immer noch alles erzählte. Wie immer, wenn man sich auf etwas freut, kam mir die folgende Zeit bis Weihnachten ewig lang vor. Aber danach ging alles ziemlich schnell und eh ich mich versah, brannte schon die vierte Kerze auf unsrem Adventskranz, der von der Decke hing. Wir sangen alle zusammen schöne Weihnachtslieder und ich denke, wir sangen sie alle mit dem Gedanken an eine bessere Zukunft, auch wenn ich in solchen Momenten immer noch an die schönen Weihnachtsfeste in Kaulwitz dachte.
Natürlich ging ich nach den Weihnachtsfeiertagen noch einmal zu all meinen Freundinnen, die ich in der kurzen Zeit gefunden hatte, auch zu Vinzent, dem Schifferklavierspieler, um mich zu verabschieden. Außerdem ging ich noch zu meinem Lehrer, um auch ihm zu sagen, dass ich nach den Weihnachtsferien nicht mehr wieder kommen würde und nahm meine Abmeldung gleich mit.

Der Umzug nach Kochanowitz

Nach dem Jahreswechsel fingen wir an die ersten Möbelstücke aus unserer Wohnung nach Kochanowitz zu transportieren. Auch die Tiere brachten wir als erstes in unsere neue Försterei. Doch das meiste musste natürlich mit uns an einem Tag rüber geschafft werden. Schon die Ankunft dort konnte nicht gegensätzlicher zu den beiden Förstereien vorher sein. Normalerweise waren wir es gewohnt in einem Haus, im oder am Wald zu wohnen. Wir kannten es nicht, dass sich Nachbarn dafür interessierten, wer wir sind oder ob wir Hilfe brauchten. Da wir aber Hilfe beim Aufstellen der Möbel dringend nötig hatten, kamen uns die Leute gerade recht. Auch beim Einräumen des Geschirrs unterstützten die Nachbarinnen Muttl sehr. Außerdem brachten sie uns Essen herüber, da sie ahnten, dass wir länger nichts bekommen hatten. Obwohl die Leute auch polnisch sprachen, fühlten wir uns sofort sehr wohl. Auch half sehr, dass unsere Wohnung durch einen Kachelofen in der Küche geheizt wurde. Die erste Frau, mit der auch meine Eltern Bekanntschaft schlossen, war Anna. Anna war erst 16 Jahre alt, aber vom ersten Moment an eine große Hilfe für Muttl, genauso wie vorher Luzi in Wiersbie. Sie wohnte nicht weit von uns entfernt, kam daher des Öfteren zu uns und half wo sie konnte.
Unsere Haustür war aus schwerer Eiche gefertigt und um sie zu erreichen, musste man zunächst einige Stufen hinauf steigen. Diesmal befand sich auf der rechten Seite des Flurs, das Schlafzimmer und auf der linken Seite das Wohnzimmer, durch welches man ebenfalls in die Küche gelangte. In der Küche stand der schöne, grüne Kachelofen, der die Wärme für die ganze Wohnung spendete. Von der Küche aus konnte man in den Garten gehen. Er lag unter einer dicken Schneedecke, erkennen konnte man fast nichts. Um von der Küche wieder in den Flur zu gelangen, konnte man einfach rechts herum durch eine große Diele gehen, die mit einer Glaswand abgetrennt war.
Nachdem wir das Meiste in der Wohnung eingeräumt hatten, ging ich das erste Mal in die Schule, die in einem Schloss zu finden war. Meine Lehrerin stellte mich am ersten Tag der Klasse vor und fragte mich über den Unterrichtsstoff in Wiersbie aus. Leider waren die Kinder in Kochanowitz schon weiter als die in Wiersbie, so dass ich einiges aufholen musste. Ich war jetzt in der 4a und Konrad kam in die erste Klasse. Da Irmgard im Juni auch schon 3 Jahre alt wurde, durfte sie jetzt den Kindergarten besuchen, so dass sie auch nicht mehr den ganzen Tag zu Hause bleiben musste.
Hannchen ging weiter auf die Höhere Mädchenschule in der Kreisstadt Koschentin / Koszecin,
dann auf die Handelsschule in Tarnowitz / Tarnowskie Góry. Das ging jetzt sehr einfach, da es in unserem Ort einen eigenen Bahnhof gab, so dass Hannchen jeden Morgen mit dem Zug fahren konnte.

Unser neues Dorf
Außer dem Bahnhof, gab es auch noch einige andere Besonderheiten im Ort. Verschiedene Geschäfte reihten sich beispielsweise an der Dorfstraße, die Muttl das Einkaufen vereinfachten. Die Auswahl Lebensmittel war nicht sehr groß, da alles über Lebensmittelkarten ging. Jede Person hatte eine solche Karte, auf der grammweise angegeben war, wie viel jedem, wovon, pro Monat zustand. Auf den Karten für Kinder und Babys waren andere Lebensmittel und Nährstoffe angegeben. Da wir noch aus dem letzten Jahr eingekochte Früchte im Keller hatten und Muttl auch in diesem Jahr wieder Kartoffeln und anderes Gemüse einsähen und pflanzen wollte, ging es uns trotz der geringen Monatsrationen auf den Lebensmittelkarten sehr gut. Muttl betete oft für die Leute in der Stadt, die keinen Garten mit Kartoffeln hatten und für die ausschließlich der Anteil auf den Lebensmittelkarten für den ganzen Monat reichen musste.
Außer den Geschäften gab es, nicht weit von unserer Schule entfernt, eine schöne katholische Kirche, was natürlich vor allem zur Freude meiner Mutter war. Obwohl ich am 17.1.1941 schon meinen 10. Geburtstag feierte, war ich immer noch nicht zur 1. hl. Kommunion gegangen. Dorchen hatte mir schon vor einiger Zeit geschrieben, dass sie den Kommunionunterricht begonnen hatte, damit sie im Frühjahr die erste hl. Kommunion in Kaulwitz empfangen könne. Ich gebe zu, dass ich zu dieser Zeit schon etwas neidisch war, da wir anfangs nicht wussten, wann wir Kinder in den Okkupationsgebieten zur Kommunion gehen würden.

Langsam lebten wir uns ein - bei den Menschen - und im Ort
Mittlerweile kam der Frühling und ich machte, natürlich vor allem durch die Schule, immer mehr Bekanntschaften, die sich zu Freundschaften entwickelten. Wie z.B. bei Mathilde, deren Tante eine Gärtnerei in unserem Ort hatte, in der wir öfter Blumen und Samen für unseren Garten kauften. Da der Sommer sich mit großen Schritten näherte, war die Pflege der Pflanzen im Garten sehr wichtig, damit sie bis zur baldigen Erntezeit noch wachsen konnten.
Zu dieser Zeit war Anna fast den ganzen Tag bei uns. Sie verbrachte den ganzen Tag mit Muttl im Garten und jätete Unkraut, goss alle Pflanzen und achtete auch sonst darauf, dass alles gedeihen konnte. Nach und nach stiegen natürlich auch die Temperaturen und zur Freude aller Kinder im Dorf begann die Badezeit. Ein wenig außerhalb unseres Dorfes lag ein schöner Teich, bei dem sich, bei entsprechenden Temperaturen, alle Dorfkinder versammelten, um dort ihre freie Zeit zu genießen. Es war eine sehr beliebte Stelle, das Teichbett war extra mit Sand aufgefüllt worden, so gab es ein strand-ähnliches Gefühl und die meisten Verletzungen waren ausgeschlossen. Ich traf mich mit meinen Schulfreundinnen immer schon am Dorfrand, damit wir zusammen dorthin gehen konnten. Doch wie es so ist, vergeht die schönste Zeit am schnellsten, der Sommer war rasch vorbei und der Herbst stand wieder vor der Tür.

Der Druck von oben steigt

Da wir hin und wieder hörten, dass wieder ein Sohn oder ein Vater aus einer Familie im Dorf an der Front gefallen war, sagte der Pfarrer in der Kirche dann immer: "N.N., der fürs Vaterland sein Leben ließ!" Ich konnte zuerst nicht verstehen, was das heißen sollte, doch mit der Zeit verstand ich es. Ich hörte auch immer öfter, wie im Dorf gesagt wurde, dass jetzt auch noch die Kirche Schwierigkeiten bekommen würde. Mit der Zeit kam es auch immer häufiger vor, dass schwarz gekleidete Männer mit dem Parteiabzeichen hinten am Kirchenportal während der Messe standen. Sie waren zwar zurückhaltend, doch natürlich fielen sie jedem sofort auf. Muttl erklärte mir, dass sie zu unserer Bewachung dort standen. Da jedoch mein Lehrer ein Nazi war, erfuhren wir durch seine deutlichen Bemerkungen, dass sie zur Beobachtung des Pfarrers und der Gemeindemitglieder da gewesen wären und dass alle, die auch nur ein Wort gegen die Partei sagten, mächtig Ärger kriegen würden.

Zu dieser Zeit hatten wir noch keine Ahnung, wie dieser Ärger aussehen würde. Ich mochte diesen Lehrer nicht besonders, da wir bei ihm immer die Lieder, die wir sangen, vorgeschrieben bekamen und wir sie nicht, wie bei den anderen Lehrerinnen, aussuchen durften. Jedoch hatten wir Mädchen nicht so viele Stunden bei diesem Lehrer, wie die Jungen aus meiner Klasse. Sie hatten fast alle Stunden bei ihm.
Er war es auch, der uns Mädchen anwies zu den Jungmädchen zu gehen und die Jungen in das Jungvolk.

Hitlerjugend: Jungvolk, sog. Pimpfe von 10 bis 14; Jungen von 14 bis 18 Jahren (die eigentliche Hitlerjugend). Jungmädel von 10 bis 14; BDM / Bund Deutscher Mädel von 15 bis 21 Jahren.

Für mich selbst war es nicht so komisch, als ich das erste Mal mit der Uniform nach Hause kam, da sie ja alle Mädchen trugen, doch meine Eltern guckten mich an, als hätte ich eine 6 in der Schule bekommen. Die Stunden der Jungmädchen hatten wir bei einer Lehrerin, die ich sehr gerne mochte und mit der wir sehr schöne Dinge machten. Zum größten Teil machten wir etwas Handwerkliches und sangen dabei Volkslieder, die wir uns selbst aussuchen durften. Wir strickten, nähten, häkelten alles Mögliche. Irgendwann begannen wir dann die fertig gearbeiteten Sachen in Kartons für die Soldaten zu packen. Wir freuten uns, dass wir für so einen guten Zweck gearbeitet hatten. Zum Schluss befanden sich Handschuhe, Schals, Ohrenwärmer, Mützen, Socken und solche Sachen in den Kartons. Als wir mit damit fertig waren, fingen wir an Spielzeug für arme oder kinderreiche Familien herzustellen. Vor allem die Jungen bastelten sehr schöne Holzspielzeuge aus Holzresten, die sie von der Dorfschreinerei bekamen.
Da es mittlerweile schon November geworden war, fingen wir an Weihnachtsbaumschmuck zu fertigen. Da während den Weihnachtsfeiertagen eine Weihnachtsfeier stattfinden sollte, musste der Weihnachtsbaum auch mit selbst gebasteltem Schmuck verziert werden. Neben den abendlichen Jungmädchentreffen hatte zum Herbstanfang auch mein lang ersehnter Kommunionunterricht begonnen. Mit anderen Worten, ich war zu dieser Zeit voll ausgelastet und freute mich somit auf die Weihnachtsferien, die immer näher rückten.
Die große Weihnachtsfeier, auf die wir uns alle schon so lange vorbereitet hatten, verlief genau so friedlich und harmonisch, wie wir uns das vorgestellt hatten. Wir sangen alle zusammen Weihnachtslieder wie "Oh Tannenbaum" und "Hohe Nacht der klaren Sterne". Außerdem sagten wir Kinder jedes ein Gedicht auf, welches wir lange vorher geübt hatten. Zum Schluss gab es noch für alle Geschenke. Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass manche Eltern Radios geschenkt bekamen. Die wurden damals Volksempfänger genannt. Natürlich wurde auch an die Soldaten im Krieg gedacht und den Müttern derer, die bereits gefallen waren, wurde ein goldenes Kreuz, welches Mutterkreuz genannt wurde, überreicht. Mir taten diese Mütter schon damals leid, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass so ein Kreuz ein guter Ersatz für ihren Sohn sei.
Jede Familie sollte für die nationalsozialistische Propaganda erreichbar sein. Die Radios waren einfach und preiswert. Die wichtigsten ausländischen Sender konnte man empfangen, wenn auch das Gegenteil behauptet wurde.

Das private Weihnachten in Kochanowitz

Nach der Weihnachtsfeier gab es selbstverständlich die alljährliche heilige Weihnachtsmesse. Auch wenn es für uns die erste in Kochanowitz war, fühlten wir uns sehr geborgen. Zumindest gefiel es uns besser als in Wiersbie, da alles viel festlicher organisiert war. Außer der Orgel spielte eine Blasmusikkappelle, die den Gottesdienst zu etwas sehr Besonderem machte. Auch im Anschluss an den Gottesdienst feierte unsere Familie bei uns zu Hause ein friedliches, schönes Weihnachten, da unserer Muttl immer etwas Schönes einfiel. Die Weihnachtsfeiertage waren vorüber, der Alltag kehrte wieder ein, wir rückten auf das Jahr 1942 zu. Wie in jedem Jahr war auch dieser Winter sehr kalt. Ich dankte Gott oft dafür, dass wir nicht mehr in Wiersbie wohnten und ich bei dieser Kälte nicht mehr diesen weiten Weg zur Schule gehen musste.

Meine 1. Hl. Kommunion - Und das Leben geht weiter

Am 17.1.1942 wurde ich schon 11 Jahre und endlich rückte das bisher größte Fest meines Lebens näher. Im Frühjahr 1942 sollte ich, zwar verspätet, endlich meine erste heilige Kommunion empfangen. Obwohl der große Tag erst im Mai war, fing meine Mutter bereits im Februar an Stoffe für mein Kleid zu suchen, da sie es selber nähen wollte. Nachdem wir nach langem Suchen den Stoff für mein Kleid bei einer im Ort arbeitenden Schneiderin gefunden hatten, lag noch eine Menge Arbeit vor Muttl. Das einzige was wir direkt so kaufen konnten, waren meine Schuhe, aus weißem Leinen gefertigt, gefielen sie mir sehr gut. Ich konnte gar nicht aufhören sie anzugucken, da ich ja nicht oft etwas so Schönes gekauft bekam.
Im April fing das neue Schuljahr an, der Mai kam immer näher und mein Kleid nahm mittlerweile Gestalt an. Und dann war mein großer Tag gekommen. Es war ein sonniger Morgen und ich konnte gar nicht schnell genug aus dem Bett kommen, weil ich so aufgeregt war, mein Kleid endlich anziehen zu dürfen. Es hatte einen Faltenrock und daran ein schönes Oberteil, darüber hatte Muttl mir ein Bogen-Bolero genäht. Dazu hatte ich ein passendes Täschchen.
Und dann ging es endlich los. Wir waren in diesem Jahr ungefähr 40 Kommunionkinder. Wir alle trafen uns an diesem Morgen mit unseren Eltern am Jugendheim, von wo aus uns der Zug, bestehend aus der Blaskappelle, den Blumengirlanden tragenden Frauen aus dem Ort, dazu der Rest der Gemeindemitglieder, abholten und zur Kirche begleiteten. Am Kircheneingang, vor der großen Holztür, standen viele Ministranten Spalier. Sie trugen, wie immer an Festtagen, rot-weiße Gewänder und gingen hinter uns in die Kirche. Sie alle hatten Schellen in den Händen, die sie die ganze Zeit erklingen ließen. Als wir eintraten, begann der Chor zu singen und vom Pfarrer geführt gingen wir in unsere Bänke, an denen Kerzenständer für unsere Kerzen befestigt waren. Die Kirche war schön geschmückt worden, sie sah richtig festlich aus.
Es war ein überwältigend schöner Tag, der aber natürlich in der Kirche noch nicht endete. Als die Messe vorbei war, schien die Sonne immer noch vom Himmel und wir gingen nach Hause und feierten bei uns im Garten. Auch wenn das Fest in einem relativ kleinen Rahmen war, wir mussten ja fast alles auf Lebensmittelkarten kaufen, war es einer der schönsten Tage in meinem Leben; ich werde ihn wohl nie vergessen. Doch irgendwann geht jeder Tag zu Ende. Zu unserer Freude, hatten alle Kinder aus unserer Klasse, die zur Kommunion gegangen waren, am nächsten Tag schulfrei. Doch als wir am Dienstag wieder in die Schule gingen erfuhren wir, dass auch die anderen frei gehabt hatten, da nur noch wenige in der Klasse waren.
Im Juni verstarb meine Oma, die Mutter meines Vaters. Da sie jedoch nicht weit von uns entfernt wohnte, es waren nur drei Stationen mit dem Zug, konnten wir uns noch von ihr verabschieden. Wir fuhren zur Beerdigung früh am Morgen mit dem Zug los. Konrad und Irmgard blieben beim Opa, Muttls Vater, der zu uns zu Besuch gekommen war. Die beiden waren noch zu klein für eine Beerdigung. Am Abend kamen wir wieder zurück und ich hatte das Gefühl, dass es Vatl gut getan hatte, seine Mutter wenigstens noch ein letztes Mal zu sehen, so dass er richtig Abschied nehmen konnte.
Es wurde Sommer und die Badezeit brach wieder an, doch leider bekamen wir in der Schule neue Bücher und auch einige neue Fächer hinzu, die uns viel von unserer Freizeit stahlen. Trotz der schwereren Arbeit für die Schule, half ich Muttl zum einen im Garten, und zum anderen auf unserem Kartoffelfeld, das mindestens 20 Minuten von unserem Haus entfernt war.

Hannchens Schullaufbahn - stumme Tränen
Hannchen, sie war mittlerweile 14, hatte ihre Schule abgeschlossen und kam jetzt nur noch am Wochenende nach Hause, da sie nun in die Handelsschule ging. Diese war allerdings in Tarnowitz,
und das war zu weit weg, als dass man den Weg jeden Tag zweimal fahren hätte können. Sie wohnte bei einem Krankenkassendirektor, dessen Familie sehr nett war.
Diese Schule schloss sie ab, ehe sie ein Jahr als Pflichtjahr-Mädchen verbrachte. So ein Jahr mussten zu dieser Zeit alle Mädchen machen, bevor sie in den Beruf gingen; so lernten sie viel über die Arbeit im Haushalt. Muttl bekam ebenfalls ein solches Mädchen, was zur Folge hatte, dass Anna nur noch selten zu uns kam.
Als wir eines Tages mit den Fahrrädern vom Feld nach Hause fuhren, hörten wir, dass Vinzent Klama, der Bruder einer Schulfreundin aus Wiersbie im Krieg gefallen war. Ich konnte das nicht glauben und brachte auf dem ganzen nach Hause Weg keinen Ton mehr raus. Ich mochte Vinzent, er konnte so gut Schifferklavier spielen. Stumme Tränen rannen meine Wangen hinunter. Es war wieder dieses Gefühl in mir, dass ich nie glaubte, dass es auch Leute die ich kannte und mochte, treffen konnte.

Mein Besuch in Kaulwitz
Doch die Zeit verging und da mein letzter Besuch in Kaulwitz schon ein ganzes Jahr her war, fragte ich Dorchen im nächsten Brief, ob ich sie besuchen kommen könnte. Natürlich freute sie sich, dass ich immer noch gerne nach Kaulwitz kommen wollte, obwohl ich schon seit zwei Jahren nicht mehr dort wohnte. Allerdings konnte ich in diesem Urlaub nicht bei Dorchen zu Hause wohnen, da ihr Vater zur Taufe ihres kleinen Bruders Günter auf Sonderurlaub kam und deswegen kein Platz für mich war. Also schlief ich bei Magda, einer anderen Freundin in Kaulwitz. Natürlich verbrachte ich trotzdem viel Zeit mit Dorchen. Ich war bei ihrer Familie zum Taufkaffee eingeladen. Zu den Zeiten, zu denen sich Dorchen von ihrer Familie loseisen konnte, fuhren wir zu den üblichen "Sehenswürdigkeiten".
Wir besuchten meinen kleinen Bruder Valentin auf dem Friedhof und ich freute mich, dass das Grab immer noch so schön gepflegt war, wie zu unserer Zeit. Weniger erfreulich war, wie zu erwarten, der Anblick der alten Försterei. Mir stiegen, wie schon beim letzten Mal, die Tränen in die Augen.
Ich wusste nicht was ich schlimmer fand, der Gedanke, dass wir nicht mehr hier wohnten oder der, dass alles so heruntergekommen war. Sicher hätte ich besser damit leben können, wenn der Garten noch so ausgesehen hätte wie damals. Ich war nur froh, dass Muttl das nicht sehen musste.
Ansonsten fuhren wir auch durch den Wald, den wir besser kannten als unsere Westentaschen. Wir fuhren zu Plätzen, mit denen wir besondere Erinnerungen verbanden und lachten dann über uns. Doch wie immer viel zu schnell, ging auch diese Zeit in Kaulwitz zu Ende und der Abschied fiel mir sehr schwer. Vor allem weil ich mir sicher war, dass ich manche Leute zum letzten Mal gesehen hatte und weil ich nicht wusste, ob der Krieg mir einen weiteren Besuch erlauben würde.

Kinderlandverschickung
Kaum wieder zu Hause angekommen, kaum hatte ich meiner Mutter meine Erlebnisse in Kaulwitz erzählen können, verkündete sie mir, dass ich zur Erholung auf einen Bauernhof fahren und es in 14 Tagen schon losgehen sollte. Ich erinnere mich, dass der Ort Mahlsdorf in Brandenburg (70 km sö von Potsdam) hieß. Zunächst war ich weniger begeistert, eigentlich sträubte ich mich bis zum Tag der Abfahrt, doch als ich am Bahnhof die vielen anderen, zwar fremden, doch freundlich aussehenden Kinder sah, freute ich mich mehr oder weniger auf die Bahnfahrt und die darauf folgende Zeit auf dem Bauernhof.
Wie erhofft, lernte ich schon auf der Fahrt einige Kinder kennen. Wir fuhren immer weiter Richtung Norden, bis der Zug irgendwann quietschend zum Stehen kam. Am Bahnsteig warteten schon die Leute, die ein Kind aufnehmen wollten. Meine Gastfamilie machte einen sehr netten ersten Eindruck. Als wir auf dem Bauernhof ankamen, wurde mir die Umgebung gezeigt. Ich erinnere mich genau, dass die Tochter der Bauersfrau ebenfalls Dorothea hieß und so alt war wie ich. Da sie aber von ihrer Mutter Dorle genannt wurde, war es nicht sehr schwer eine von uns zu rufen, da ich ja von allen Dorchen gerufen wurde. Wir verstanden uns von Anfang an gut und spielten fast den ganzen Tag miteinander. Die Zeit, die ich auf dem Bauernhof verbrachte, war die Zeit der Kirschernte.
Als Dorle und ich uns eines Nachmittags im Garten aufhielten, wollte sie sehen, ob ich wirklich so gut klettern konnte, wie ich es ihr immer erzählt hatte. Also kletterte ich auf einen der Kirschbäume und wo ich schon einmal dort oben war, schmiss ich einige dunkelrote Kirschpaare hinunter zu Dorle, damit wir sie für ihre Mutter aufsammeln konnten. Doch anstatt die Kirschen aufzulesen, rannte sie weg und rief so laut, dass man sie über den ganzen Hof hören konnte: "Die Dorchen klaut Kirschen von unseren Bäumen!" Ich kletterte so schnell ich konnte wieder hinunter und sammelte die Kirschen in meine Schürze. Dann ging ich in die Küche zur Bäuerin, wo ich auch Dorle ganz außer Atem vorfand, leerte alle Kirschen auf den Tisch, drehte mich auf dem Absatz um und wollte um wieder hinaus gehen. Doch die Bäuerin hielt mich zurück, bedankte sich und gab mir zu Belohnung ein Schlüsselchen voll mit diesen Kirschen. Obwohl ich wusste, dass die Bäuerin Dorle nicht glaubte, waren für mich, trotz Ponyreiten und langen Spaziergängen, die Ferien gelaufen. Ich hatte keine Lust mehr mit ihr zu spielen oder geschweige denn zu reden und so ging ich immer zum nächsten Bauernhof, um dort mit den Kindern zu spielen.
Doch etwas Gutes hatte die Sache auch, ich lernte nicht immer so gutgläubig zu sein und war von nun an immer etwas vorsichtiger bei der Wahl meiner Freundinnen. Die Zeit verging zwar nicht so schnell wie ich es mir gewünscht hätte, aber trotzdem rückte der Tag meiner Abfahrt immer näher. Meine Gastfamilie brachte mich zum Bahnhof und dort passierte das, womit ich nicht mehr gerechnet hatte. Dorle entschuldigte sich bei mir für ihr unmögliches Verhalten. Nachher im Zug dachte ich lange darüber nach, ob ihre Mutter sie dazu "getrieben" habe oder ob sie aus freien Stücken gehandelte. Aber eigentlich war es mir auch egal. Jedenfalls, der Abschied fiel mir nicht besonders schwer. Auch hätte ich nicht unbedingt noch einmal meine Ferien dort verbringen wollen.

Der Krieg rückt näher als ich dachte
Die Rückfahrt war ein harter Schlag. Während wir durch die einzelnen Städte fuhren, sahen wir oft nur noch übrig gebliebene Ruinen, vorher waren es große und sehenswerte Städte. Ich musste jedes Mal wieder schlucken, ich wurde jedes Mal noch nachdenklicher. Wieder kam, wie schon bei der Nachricht von Vinzents Tod, das Gefühl in mir hoch, dass der Krieg näher an uns an dran war, als ich immer dachte. Doch noch lebten wir bei uns in einer heilen Welt, noch wurden wir verschont.

Gefährdung durch Partisanen
Wieder zu Hause, war ich doch sehr erleichtert und obwohl wir schon im Jahr 1942 lebten, sollte es noch einige Zeit dauern, bis uns der eigentliche Krieg erreichte. Das Leben ging zwar für uns weiter, aber der Schulalltag wurde von Tag zu Tag beängstigender, denn es gab auch für uns Kinder kein anderes Thema, als die zahlreichen Angriffe der Partisanen.
Polen wehrten sich gegen die deutsche Besetzung der Oberschlesischen Gebiete, die ihnen nach dem 1 WK durch den Versailler Vertrag zugesprochen worden waren.
Diese Angriffe geschahen zu dieser Zeit auch in unserer näheren Umgebung. Eines Tages kam es sogar so weit, dass Mathilde Maron, ein Mädchen aus meiner Klasse, mit verbundenem Arm zum Unterricht erschien, da ihr Arm von Granatsplittern durchzogen war. Sie erzählte uns, dass tags zuvor ihr kompletter Hof ausgeraubt worden war. Sie erzählte immer nur von "Ihnen" und ich wusste nicht, wer gemeint war. Alles Essbare aus Haus und Hof war auf einen LKW geladen und weggefahren worden. Außerdem warfen "Sie" eine Eierhandgranate in das Haus meiner Klassenkameradin und dabei wurde sie verletzt. Die nächste Zeit war für uns alle sehr beängstigend. Immer wieder fanden sich Hinweise darauf, dass sich, nicht weit von unserem Dorf, "Leute" in den Wäldern aufhielten.
Bei seinen Rundgängen durch den Wald fand Vatl immer wieder verdächtige Feuerstellen. Muttl hörte von Frauen aus ihrer Umgebung, dass Frauen bei ihnen vorsprachen, die um Nahrungsmittel bettelten. Als Muttl davon hörte, erinnerte sie sich an eine Frau, die vor ein paar Wochen plötzlich vor unserem Fenster stand und nach etwas Brot fragte. Muttl hatte sich damals nichts dabei gedacht, doch nun wurden die Gerüchte konkreter, die Gefahr stieg.
Richtig mit der Angst bekam ich es jedoch erst zu tun, als wir erfuhren, dass plötzlich Vatls bester Arbeiter und der Herr Pastor von Gestapoleuten abgeholt worden waren. Da wir nicht wussten warum, wussten wir auch nicht, ob und wenn ja, wann sie wieder kämen. Musste jetzt jeder damit rechnen abgeholt zu werden? Doch nach drei Tagen tauchte sie unversehrt wieder auf.
Mittlerweile wussten wir nicht mehr, vor wem wir mehr Angst haben mussten, vor den Partisanen oder der Gestapo. Es war für uns die Wahl zwischen Not und Elend Ich erinnere mich, dass ein Förster aus einem der Nachbardörfer, Herr Gattes, von den Partisanen erschossen wurde. In der Leichenhalle sah ich ihn in seiner Försteruniform liegen. Das war schon beängstigend besonders für meinen Vater. Auch mich schüttelte die Angst, dass auch Vater Gleiches passieren könne. So wurde nachgedacht, ob es nicht besser wäre nach Reichsdeutschland wegzuziehen. Das war aber so schnell nicht möglich, da mein Vater vertraglich im Forstamt Schwarzwald angestellt war.
Ein paar Monate später kamen Bomben-Flüchtlingskinder aus Berlin zu uns und auch wenn sie nur kurze Zeit da waren, erinnerten sie uns mit ihrer Sprache noch einmal daran, wo wir eigentlich her kamen, und das sollten wir nie vergessen. Muttl erinnerte mich oft daran, mir nicht so sehr die Sprache der Menschen hier anzugewöhnen, sondern deutsch zu sprechen. Aber erst durch die deutschen Flüchtlingskinder merkte ich, wie sehr ich von unserer Sprache abgewichen war.
Das Jahr neigte sich dem Ende zu und im Weihnachtsgottesdienst beteten alle für den zukünftigen Frieden. Doch auch das Jahr 1943 begann nicht besser als das alte Jahr aufgehört hatte.
Dorchen und ich schrieben uns immer noch und kurz nach Neujahr kam ihre Antwort auf meinen letzten Brief. Sie teilte mir mit, dass ihr Vater offiziell als vermisst gemeldet war. Seine Spuren führten wohl bis nach Russland, doch von dort fehlte jedes Lebenszeichen. Es tat mir für Dorchen und ihre Familie unglaublich leid, doch gleichzeitig war ich froh, dass mein Vater, 1890 geboren, bereits zu alt war, um noch eingezogen zu werden. Als ich meinen Eltern davon erzählte, waren sie wegen der Nachricht über Dorchens Vater sehr erschrocken. Doch noch mehr beunruhigte sie die Tatsache, dass der Krieg bereits bis nach Russland hineingetragen wurde. Ich erinnere mich daran, dass das Wort "Weltkrieg" immer häufiger fiel, auch in meiner Gegenwart. Meine Eltern wirkten immer angespannter.
Einmal schnappte ich ein Gespräch auf, das von meinem Onkel Edmund handelte, der in der Nähe von Auschwitz wohnte. Er hatte den Eltern von möglichen Verbrechen dort erzählt. Davon hatte ich aber zu dieser Zeit noch keine Ahnung.

Ein grausiger Vormittag für uns Schulkinder - Ein schrecklicher Schock
Die Zeit verging und nachdem ich in den Osterferien wieder mit vielen Kindern zur Erholung gefahren war, ging es weiter auf den Sommer zu. Doch dieser Sommer sollte nicht so sein wie die anderen, er hat sich für immer in mein Gedächtnis eingeprägt. Als wir eines Morgens aus dem Haus zur Schule gingen, fielen uns bewaffnete Männer vom Militär auf, die sich im ganzen Dorf postiert hatten. In der Schule angekommen, sagte uns unser Lehrer, dass wir wieder nach Hause gehen und dort auch am besten bleiben sollten. Unter normalen Umständen wären wir gut gelaunt nach Hause gelaufen, doch da wir wussten warum unser Lehrer dies tat, war die Stimmung gedrückt. Da wir uns unter diesen Umständen auch nicht alleine im Ort aufhalten wollten, gingen wir mit mehreren Mädels zusammen los. Doch schon schnell bekamen wir solche Angst, dass eine meiner Freundinnen vorschlug, in ihre Scheune zu gehen, um von dort das Anrücken des Militärs zu beobachten. Wir versteckten uns auf dem Dachboden der Scheune, und hatten von oben einen guten Blick auf die Straße und auf die nahe Gemeindewiese. Doch was wir dort sahen, uns allen stockte der Atem.
Ein Militärfahrzeug hielt auf der Gemeindewiese an und zehn Männer stiegen aus. Sie wurden von bewaffneten SS-Soldaten bewacht, die sie auf ein Gestell geleiteten. Das Gestell, aus Brettern und Ziegelsteinen aufgebaut, erkannten wir sofort als Galgen. Als nun die zehn Männer auf dem Brett standen, wurden ihnen Schlingen um den Hals gelegt, die Soldaten schoben das Brett auf dem die Männer standen weg, ein Schrei, ein Knacken zerriss die Stille. In meiner Fassungslosigkeit starrte ich ins Leere.
Doch - wir waren noch nicht ganz bei uns, von dem ersten Schock - da hörten wir, wie sich einer von den Todeskandidaten unter Tränen gegen die Soldaten wehrte. Wir erkannten in ihm einen Jungen von kaum 16 Jahren, er habe aus einer Wehrmachts-Bäckerei angeblich Brot gestohlen. Wir wandten uns ab, wir konnten und wollten nichts mehr hören und sehen.
Als alles vorbei war, wurden die Leichen und der Galgen wieder auf das Auto gehoben, die Soldaten fuhren damit weg. Und die Soldaten, die mit dem MG (Maschinengewehr) postiert waren, lösten sich auf und fuhren ebenfalls weg.


So schnell ich konnte lief ich nach Hause und weinte mich bei meiner Mutter aus. Diese war sehr geschockt, dass ich das mit angesehen hatte. Tagelang konnte ich an nichts anderes mehr denken, immer wieder schossen die Bilder durch meinen Kopf. Vatl erzählte mir dann, dass sie nur Dieben so etwas antun würden, aber wenn der Junge vielleicht Hunger hatte?
Doch trotz der Ereignisse der letzten Zeit, durfte ich in den Sommerferien zu meiner Cousine Gisela nach Breslau fahren, wo auch meine Oma wohnte. Vielleicht durfte ich gerade wegen der zurückliegenden Ereignisse fahren, damit ich mal auf andere Gedanken kam. Ich freute mich schon riesig, vor allem, weil ich alleine fahren würde. Oma und Gisela holten mich am Bahnhof ab und wir gingen ein bisschen durch die Gegend, damit ich mir die Umgebung ansehen konnte. Es war eine Ewigkeit her, dass ich das letzte Mal hier gewesen war und war überrascht, an wie viel ich mich noch erinnerte. Eine ganze Woche sollte ich dort bleiben, bis Muttl und Vatl nachkommen und mich holen würden.
Ich genoss diese Woche sehr. Wir gingen in den Zoo und ich sah dort Tiere, die ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte, außer natürlich in den Schulbüchern. An einem nächsten Tag, fuhren wir zum Flughafen, da dieser mit der Straßenbahn nicht sehr weit weg war und es mich sehr interessierte, wie Flugzeuge aussahen, wenn sie auf dem Boden standen. Für mich ging die Woche ein bisschen zu schnell vorbei, denn eh ich mich versah, war es Sonntag und meine Eltern standen vor der Tür. Wir verbrachten alle einen schönen Tag zusammen, bis wir am Abend nach Hause fuhren.

Wir bekommen Einquartierung
Ein ganzes Jahr verging und ich war nun 13 Jahre alt. Es war wieder Sommer und unsere Soldaten waren eine längere Zeit in unserem Dorf untergekommen, bevor sie an die Front abkommandiert wurden. Als es soweit war, wurde vor der Schule ein großes Fest gefeiert, um die Soldaten würdig zu verabschieden. Denn obwohl es eigentlich ein eher ungewisser Abschied war, sollten sie etwas Schönes haben, an das sie sich gerne erinnerten. Inzwischen bekamen auch wir Kinder immer häufiger mit, wie schlimm es bereits um Deutschland stand, und dass der Kampf vor Warschau bereits begonnen hatte. Doch keiner von uns wusste, dass wir in diesem Jahr unser letztes Weihnachten erleben sollten.

Unser letztes Weihnachtsfest in Kochanowitz - Das Ende ist gekommen

Im neuen Jahr, 1945, räumte meine Mutter den Weihnachtsbaum früher ab. Sonst stand er noch über meinen Geburtstag (17. Januar) hinaus. Als ich sie darauf ansprach, sagte sie, dass niemand wüsste, was bis zu meinem Geburtstag noch alles passieren würde. Auch in den letzten Briefen von Dorchen, kamen immer wieder Sätze vor wie: ob wir denn keine Angst hätten da unten in Polen, und wie es hier noch so zu gehen würde. Ich fing an mir immer mehr Gedanken zu machen, ob wir nicht doch, wie unser Nachbar mir schon vor längerer Zeit gesagt hatte, irgendwann von hier fliehen müssen.
Am 15.1.1945 hat meine Mutter abends, wie jedes Jahr, einen Kuchen für meinen Geburtstag für den nächsten Tag gebacken. Doch am nächsten Tag war bereits am Nachmittag unser ganzes Dorf von Militär besetzt und man hörte auch Panzer, die sich offensichtlich näherten. Um 17 Uhr ging ich noch zu einer Schulkameradin, um mir mein Geschichtsbuch abzuholen. Als ich wieder auf unsere Dorfstraße kam, sah ich bereits einen Panzer an dem anderen aufgereiht stehen. Ich bekam Panik und begann zu rennen. Vor unserem Haus kam ich fast nicht bis zur Tür, da die Panzer unseren Zaun umgefahren hatten und so der Weg versperrt war. Ich war noch nicht ganz zur Tür herein gekommen, da sah ich, dass viele Offiziere bei uns in der Wohnung standen. Einer riss alle Türen auf und kontrollierte jedes Zimmer. Als meine Mutter ihnen jedoch sagte, dass wir Deutsche seien und mein Vater ebenfalls Offizier, sie zeigte ein Foto von unserer Familie auf dem Vater Uniform trug, da entschuldigten sie sich und wurden viel freundlicher.
Jedoch waren sie sehr erstaunt, dass wir als Deutsche noch in diesem Ort seien. Sie fragten, ob es hier noch mehr deutsche Familien gäbe und wo mein Vater wäre, wie viele Kinder wir seien, und-und-und. Vatl wurde am Vormittag den 16.1. zum Volkssturm eingezogen; er musste sich in Lublinitz / Loben melden. Als Muttl sagte, dass Hannchen mit dem 19.00 Uhr Zug von der Arbeit käme, da lachte einer der Soldaten etwas und meinte, dass schon seit Stunden keine Züge mehr fahren würden und dass die Russen keine 15 km von hier stationiert seien.
Die Soldaten kochten sich bei uns noch Wasser für warme Getränke und benutzten unser Wohnzimmer als Funkzimmer. Es wurde Abend, es wurde später und später und Hannchen kam und kam nicht, bis ich so gegen 21.00 Uhr hektische Stimmen aus der Küche hörte. Ich war im Kinderzimmer bei Konrad und Irmgard geblieben, ging hinaus und sah, dass Hannchen zwar durchgefroren, aber wohl auf wieder zu Hause war. Während sie sich umzog und am Ofen wärmte, erzählte sie, dass sie durch den von deutschen Soldaten besetzten Wald gelaufen sei. Später am Abend im Wohnzimmer, erfuhren wir von den Soldaten, dass am nächsten Tag wahrscheinlich noch einmal ein Militärzug fahren würde, und dass das unsere letzte Chance sei, hier raus zu kommen.


Beginn der Flucht am 17.1.45
Und so sollte es geschehen. Am Morgen (17.1.45) lief ich noch kurz an der Schule vorbei und bemerkte, dass die Lehrer bereits am Abend des 16. den letzten Zug genommen hatten, sie wussten was passieren würde. So gingen wir durch den hohen Schnee und bei 29 Grad unter Null los, in Richtung Bahnhof. Nur mit dem Nötigsten an Gepäck, Muttl hatte am Abend zuvor noch zusammengepackt, ging es in eine ungewisse Zukunft. Unser zu Hause blieb hinter uns. An diesen Geburtstag werde ich mich wohl immer erinnern.
Gegen 10 Uhr waren wir am Bahnhof. Wir erfuhren von Herrn Staneck, dass der Zug jeden Moment kommen müsse, er erhalte immer wieder entsprechende Morsezeichen. Doch diese paar Minuten gingen vorbei, als wenn es nur Sekunden gewesen wären. Es waren die letzten Minuten in Kochanowitz, der Ort von dem wir uns trennen mussten. Alle mit dem Gedanken, dass wir diesen Bahnhof, der uns so vertraut vorkam, nie wieder sehen würden! Uns Kindern war diese Situation natürlich nicht so bewusst, doch ich erinnere mich noch genau daran, dass meiner Mutter stille Tränen über ihre Wangen liefen.
Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, war ich sehr erschrocken und auch verängstigt. Er war voller Soldaten und auf den Dächern der Waggons waren Maschinengewehre befestigt. Kaum öffneten sich die Türen, ging alles ganz schnell. Soldaten sprangen heraus, nahmen zuerst Konrad und Irmgard, hoben sie über Kisten in den Zug hinein. Danach kamen Hannchen und ich dran, die Griffe fühlten sich ungewohnt grob an. Im Zug war kaum Platz um gerade zu stehen, so viele Menschen nutzen die letzte Möglichkeit, um in Sicherheit zu kommen. Und dazu die vielen Soldaten, die aus dem Kampf kamen oder zum Kämpfen mussten!
Also standen wir alle getrennt und konnten weder miteinander reden, wir sahen uns auch nicht. Ich konnte auch nicht feststellen, ob Muttl überhaupt mit in den Zug gekommen war. Ich bat einen Soldaten um Hilfe, dieser konnte aus dem Fenster den Bahnsteig überblicken und versicherte mir, dass dort niemand mehr stünde. Trotzdem begann ich zu beten, da ich mich hier sehr allein gelassen fühlte und einfach nur hoffte, dass auch Muttl in einen der Waggons hinein gekommen war!

Auf der Flucht
Obwohl der Zug so voll war, war es eigentlich verhältnismäßig ruhig, ich hörte nur hin und wieder ein Stöhnen aus einer Ecke, von einem der verwundeten Soldaten! So kamen wir bis kurz vor den Wald, wo das Lager für die Juden war. Da sah ich, ich stand direkt am Fenster, über dem Zug einen sowjetischen Tiefflieger. Im gleichen Moment gab es auch schon, mit einer harten Erschütterung, den ersten Einschlag. Ich fiel hart auf den Boden, die Erschütterung hatte mich unerwartet getroffen. Das war nicht der einzige Schlag, es war einer von vielen. Die sowjetischen Tiefflieger griffen jetzt unseren Zug richtig an. Unsere Soldaten, mit den MGs auf dem Dach, schossen zurück.
Es war schrecklich, bei jedem Schlag zuckte ein heftiger Schauer durch meinen Körper. Ich hatte furchtbare Angst und hoffte die ganze Zeit, dass Konrad und Irmgard, genau wie ich, sicher in irgendeiner Ecke saßen. Sie waren bestimmt völlig verschreckt! Ein neuer Schlag traf uns, ein Flugzeug sah ich abstürzen, kurz darauf ein weiteres heruntertrudeln, es brannte aus dem Heck.
Doch dann waren wir im Wald, der schützte uns. Einer der Soldaten verkündete, dass die Flugzeuge nun abdrehen würden, und er hatte Recht. Es war ruhig geworden. Am ganzen Körper zitterte ich zwar noch vor Angst, es könne jeden Moment wieder losgehen, doch bevor ich darüber nachdenken konnte, kam plötzlich Irmgard über eine Kiste zu mir hinüber gekrabbelt und kuschelte sich an mich. Sie sagte, dass Konrad etwas weiter hinten bei Hannchen sei. Und fragte wo denn Muttl sei, sie habe solche Angst! Um sie zu beruhigen, sagte ich zu ihr, sie sitze in einem der anderen Wagen.
Ohne weitere Angriffe kamen wir schließlich nach Loben. Der Zug fuhr hier langsam durch, aber ab dann begannen erneut die Tieffliegerangriffe der Sowjets. Wieder packte uns die Angst, der Zug wurde mehrfach getroffen. Schließlich kamen wir doch in Oppeln an, wo wir in einen Anschlusszug nach Breslau umsteigen mussten.

Grauenvolles in Oppeln
Als wir aus dem Zug ausgestiegen waren, suchten wir zunächst einmal nach Muttl, was sehr schwierig war, da der Bahnhof voller Menschen war. Außerdem mussten wir uns beeilen, wir mussten den Anschlusszug nach Breslau suchen. Wir versuchten zusammen zu bleiben und gleichzeitig nach Muttl zu suchen. Als wir uns durch die Menschenmasse auf dem Bahnsteig kämpften, lief ich hinter den anderen her. Ich wunderte mich die ganze Zeit, warum auf der linken Seite des Bahnsteigs keiner der vielen Menschen lief. Dort lagen Taschen und Rucksäcke, aber auch Planen, die eine merkwürdig geformte Erhöhung abdeckten.
Um mit den anderen mitzukommen, stieg ich auf die Erhöhung und lief dort hinter ihnen her. Da zog mich eine Frau am Arm und sagte, dass ich da herunter kommen solle, ob ich denn nicht sehen würde worauf ich da lief!? Und erst als ich dann darauf achtete, erkannte ich, dass an einer Stelle vor mir eine Hand heraus guckte und ich erkannte, was unter den Planen und dem Gepäck lag. Mir wurde kalt und schlecht zugleich. Man hatte die Leichen der umgekommenen Flüchtlinge und Soldaten in einer langen Reihe am Bahnsteig hingelegt und mit den Planen und ihrem Gepäck zugedeckt.
Doch dann musste ich mich beeilen, um meine Geschwister wieder einzuholen, die inzwischen weiter gegangen waren. Und dann endlich fanden wir uns alle wieder. Wir hatten einige Male laut nach Muttl gerufen und sie schließlich über die Bahnlautsprecher ausrufen lassen. Die Züge, die ins Landesinnere, nach Westen fuhren, waren brechend voll, alle wollten weg. Bevor wir einen Zug nach Breslau fanden, indem noch Platz für uns war, gingen die Tieffliegerangriffe wieder los. Sie beschossen den ganzen Bahnhof und zielten auf alles was sich bewegte. Wir suchten eine Unterführung, um uns dort zu schützen, spürten dort nur die Erschütterungen, hörten aber die Einschläge und Schreie. Als dieser Angriff vorüber war, liefen wir weiter zu unserem Zug, der uns nach Breslau bringen sollte!
Auf dem Bahnhof waren nun erneut Verletzte und viele Menschen, die um andere weinten, die tot am Boden oder in deren Armen lagen und sie schrien, schrien. Die Schreie habe ich bis heute nicht vergessen.
Ich versuchte alles um mich herum auszuschalten, mich herauszuhalten, klammerte mich noch fester an die Hand meiner Schwester, wir klammerten uns an den Händen, klammerten uns an den Kleidern und versuchten zu unserem Zug zu kommen. Dann endlich hatten wir ihn erreicht und sogar die letzten freien Plätze in den überfüllten Abteilen gefunden! Alle die in diesem Zug saßen waren schon gezeichnet durch die ersten Einschläge. Eine Mutter hielt eines ihrer beiden Kinder tot im Arm, doch auch das andere, es hatte die Augen geschlossen, war blau angelaufen, auf den ersten Blick konnte ich nicht glauben konnte, dass es noch lebte! Alle um mich hatten den gleichen verängstigten Gesichtsausdruck, sie hatten jegliche Hoffnung verloren. Ich begann erneut zu beten.

Umsteigen in Breslau
Ich betete zunächst für unsere Familie, doch auch für die unzähligen anderen Menschen, die nun unter diesen Angriffen leiden mussten! So vergaß ich die Zeit und irgendwann begann der Zug langsamer zu werden, er stoppte, und wir alle konnten (in Breslau) aussteigen! Da wir diesmal alle zusammen geblieben waren, beeilten wir uns den Zug in Richtung Bunzlau (heute Boleslawiec, 40 km ö von Görlitz) zu finden, wo unsere Tante Franziska wohnte. Das war nicht einfach, da fast alle anderen zum Ausgang strömten! Ein Bahnbeamter sagte uns dann, dass ein Zug fahren würde, dieser jedoch noch auf eine Lokomotive warte, aber in etwa zwei Stunden fahren würde. Wir waren froh, da dieser Zug noch leer war und wir uns in den zwei Stunden wenigstens etwas vor der Kälte schützen konnten. So stiegen wir in den leeren Zug, bei Schneetreiben und immer noch -29°.
Dazu kam noch, dass wir alle fast nichts gegessen hatten. Lediglich ein bisschen Proviant steckte in unseren Rucksäcken und Muttl hatte etwas Tee in einer Thermoskanne, der war aber eigentlich für die Nacht gedacht, dass wir nicht zu sehr frieren. Das Abteil hatte zwar Holzsitze, aber wir hatten immerhin ein Dach über dem Kopf. Nach und nach füllte sich der Zug mit Flüchtlingen, die von überall her, nach und nach in den Bahnhof einfuhren. Es war schon spät am Abend geworden, der Himmel war sternklar, als wir spürten, dass sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Endlich war also eine Lokomotive angehängt worden, wir atmeten alle auf.
Ich wusste, diese Nachtfahrt konnte wieder sehr gefährlich werden, da wir den Angriffen, diesmal der Briten, hilflos ausgeliefert waren. All die heutigen Erlebnisse schwirrten mir durch den Kopf und dabei fiel mir ein, dass ich ja immer noch Geburtstag hatte. Es war der 17.01.1945 und ich wurde 14 Jahre alt. Durch die ganzen Geschehnisse hatte ich das völlig vergessen! Mir fiel Kochanowitz wieder ein und alles, was wir dort zurückgelassen hatten. Und jetzt merkte ich, dass beide Füße und die Beine durch die eisige Kälte und die Anstrengung völlig taub geworden waren. Doch das war nur eine Nebensächlichkeit, denn sonst waren wir soweit gesund und alle zusammen; bis auf Vater, ich betete immer wieder für ihn.

In Bunzlau angekommen
Dann wurde endlich Bunzlau über den Lautsprecher ausgerufen. Tante Franziska wusste noch nicht, dass wir so plötzlich vor ihrer Tür stehen würden, es gab ja keine Telefone mehr. Als wir endlich bei ihr waren, erzählte sie uns, dass in den Rundfunknachrichten bereits von den zahlreichen Angriffen durch das russische Militär und den besetzten Ostgebieten berichtet wurde. Deswegen dachte Tante Franziska schon längst an uns, ob wir noch lebten und wenn ja, wo wir wohl wären. Doch jetzt versuchten wir unsere Sorgen und die augenblickliche Lage zu vergessen: wir waren erst einmal froh darüber, dass wir ein Dach über dem Kopf hatten. Wir bekamen etwas Warmes zu essen und zu trinken und jeder bekam eine eigene Schlafmöglichkeit um sich auszuruhen!
Hannchen und ich schliefen bei Familie Jambor. Das war die Schwiegertochter von Tante Franziska, ihr Mann, der Sohn von Tante Franziska, war im Krieg. Sie hatten ebenfalls vier Kinder und wohnten in der gleichen Straße, nur zwei/drei Häuser entfernt. Muttl blieb mit den Kleinen, Konrad und Irmgard, bei Tante Franziska. Ich schlief bei der Enkeltochter mit im Zimmer. Sie hieß Marianne und war 12 Jahre alt. Wir waren ja Cousinen, da wir jedoch so weit auseinander wohnten und damals Wochenendbesuche oder ähnliches noch nicht gemacht werden konnten, kannten wir uns lediglich von Fotos oder aus Erzählungen unserer Mütter. So hatten wir uns an diesem Abend viel zu erzählen und konnten für kurze Zeit sogar vergessen, warum wir eigentlich hier waren und was für einen schlimmen Tag hinter uns lag.
Draußen fegte ein starker Schneesturm weiter über Stadt und Felder. Ständig lebten wir in Angst und mit den Gedanken, dass wir niemals mehr zurück in unsere Heimat kommen würden. Mutter fuhr einen Tag nach unserer Ankunft noch einmal mit dem Zug zurück nach Breslau, sie wollte ihre Schwester, die Eltern und den Rest der Familie zu besuchen. Niemand wusste, ob und wann man sich wieder sehen würde. Doch als sie dort in der Gustav-Müller-Straße ankam, sah sie, dass das Haus von Tante Mina, Onkel Richard und Gisela bereits evakuiert war. Ein paar vereinzelte Männer waren noch dort und wollten von Muttl wissen, wohin die Züge mit den Flüchtlingen gefahren seien. Einer meinte, die Züge würden alle Richtung Süddeutschland fahren, also in die großen Städte, wie München und so.
Muttl kam zum Glück noch am selben Abend gesund zurück und so erfuhr ich alles. Darüber war ich sehr froh, denn den ganzen Tag hatte ich mir Gedanken gemacht, ob ihr was passiert sei, ich wurde fast verrückt vor lauter Angst.
Meine Cousine Marianne wollte immer wissen, wie weit die Angreifer schon ins Land vorgedrungen seien. Doch darüber wollte ich mich nicht mit ihr unterhalten und sagte meist gar nichts. Ich dachte immer nur, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis die Angreifer auch hierher kommen würden und dann auch Tante Franziska und ihre Schwiegertochter mit ihren Kindern, ihre Wohnungen verlassen mussten.
Tante Franziska machte sich ständig Gedanken um Vatl und hatte Angst um ihn, er war ja ihr Bruder. Zehn Tage nach unserer Ankunft bei Tante Franziska, erfolgte ein Fliegerangriff auf die Stadt, vieles wurde zerbombt.
Nach ungefähr 5 Tagen klopfte es abends an der Haustür - es war Vatl. Wie ein armer Bettler stand er vor der Tür, konnte kaum laufen und ging an Stöcken. Er erzählte uns, dass die Front immer weiter heranrücke. Wir mussten sofort die nötigsten Sachen in unsere Schultaschen einpacken. Was auf unsere Lebensmittelmarken noch zu bekommen war, wurde gekauft. Wir wussten ja nicht, wie lange wir ohne Dach über dem Kopf unterwegs sein würden. Nun flüchten wir wieder, diesmal aus Bunzlau, doch jetzt war Vater zum Glück bei uns. Tante Franziska, ihre Schwiegertochter und die Kindern fuhren noch in der gleichen Nacht mit dem Zug zu den Eltern der Schwiegertochter nach Süddeutschland. Mutter wollte nicht dorthin, sondern wir wollten, wie schon vorher geplant, nach Radeberg (14 km nö v. Dresden), wo eine Cousine von Vater in der Stolpener Straße wohnte.So gingen auch wir in der gleichen Nacht zum Bahnhof.

Nach ein paar Tagen ging die Flucht weiter über Lauban nach Radeberg bei Dresden
Doch als wir dort ankamen, kamen dort Soldaten mit einem Ketten-Mannschaftswagen, die uns mitnahmen, weil, wie sie berichteten, alle Züge von Tieffliegern beschossen wurden. Sie sagten, dass sie bis Lauban / Luban, 24 km ö von Görlitz, fahren würden und dass von dort noch Züge bis Dresden gingen. Also kletterten wir alle über die Antriebsketten in das Innere des Fahrzeugs. Platz war darin für eine Mannschaft.
Unterwegs sahen wir einen Flüchtlingswagen an dem anderen, unzählige Tote lagen in den Straßengräben. Viele zerbombt, andere erfroren, einige auch eingewickelt in Decken, bei denen man teilweise noch Körperteile herausragen sah. Auch steifgefrorene Pferde lagen an den Seitenrändern. Mir war klar, dass diese Menschen hier draußen ganz alleine gestorben waren und dass auch den unzähligen Opfern an der Front keine persönliche Gedenkstätte mit einem Abschiedsgruß mehr gemacht werden konnte. Ich fing erneut an für diese Opfer zu beten. Dabei musste ich an die Frau im Zug in Oppeln denken, die ihr totes Kind im Arm hielt.
Während ich über die Opfer nachdachte, hörte ich, wie die Soldaten meine Eltern fragten, ob sie im Notfall auch jemanden erschießen würden und wie meine Eltern antworteten, dass das wirklich ein Notfall sein müsste, weil sie sonst niemals auf andere Menschen schießen würden. Dabei sah ich aus dem kleinen Fenster unseres Fahrzeugs und mir fiel erst jetzt auf, wie viele Menschen, die ich durch den Judenstern auf dem Rücken, als Juden erkannte, dort draußen in Reihen liefen und von Männern mit Gewehren bewacht und angetrieben wurden.
Als wir erneut an einer Reihe Juden vorbei fuhren, kamen plötzlich Tiefflieger. Sofort hielten wir an und die Soldaten riefen, dass wir raus sollten, um uns in Deckung zu bringen. Wir sprangen alle aus dem Fahrzeug und rannten in einen gegenüber gelegenen Garten. Kurz nachdem ich mich flach auf den Boden geschmissen hatte, hörte und spürte ich durch die Erschütterungen, wie dicht neben uns, rechts und links, die Kugeln in den hart gefrorenen Boden einschlugen. Doch nach einigen, von Angst durchzogenen Sekunden - die mir wie Stunden vorkamen - drehten die Flugzeuge wieder ab und flogen in eine andere Richtung. Ich hielt den Atem an, dachte in diesem Moment an gar nichts mehr und blieb auf dem Boden liegen, obwohl wir die Flieger nicht mehr hören konnten. Ich war in diesem Moment nicht mehr fähig zu denken, bis Muttl mich aus meiner Erstarrung riss. Sie rief, dass die Flugzeuge alle weg seien und wir schnell an den Militärwagen kommen sollten.
Hannchen war im Auto geblieben, doch die Angreifer hatten auch das Fahrzeug getroffen und sie lag auf dem Boden, übersäht mit Splittern und Glasstücken von den Scheiben. Nur langsam konnte sie sich befreien, das dauerte einige Minuten. Sie war genauso verschreckt wie wir und ich dachte: jetzt ist es wirklich vorbei. Doch weil wir rechtzeitig in Deckung gegangen waren, war auch niemand verletzt worden. Vatl war mit den Soldaten am Reden.
Dann fuhren wir weiter die Straßen entlang, vorbei an ganzen Scharen von Flüchtenden. Menschen, die zu Fuß unterwegs waren und die nichts mehr zu verlieren hatten, außer ihrem Leben. Als wir uns nach einer halben Ewigkeit, wie es mir vorkam, endlich Lauban näherten, warnten uns die Soldaten, wir sollten vorsichtig gehen, weil durch die Kämpfe in der Nacht noch Mienen versteckt sein könnten. Wir bedankten uns, und machten uns auf den Weg. Als wir dann durch die Straßen gingen, die von den Kämpfen aufgewühlt waren, bot sich ein grauenhaftes Bild von massenhaft toten Menschen, die einfach am Straßenrand lagen, nicht zugedeckt waren, weil dafür die Zeit fehlte. Muttl nahm die zwei Kleinen unter ihren Mantel, damit sie diese Bilder nicht sehen mussten.
Am Bahnhof angekommen hatten wir Glück, ein Flüchtlingszug nach Dresden sollte noch kommen. Wir warteten und dann kam der Zug voll mit Menschen an. Alle wollten weg, egal wohin, Hauptsache weg. Wir versuchten irgendwie noch in den schon völlig überfüllten Zug zu kommen. Die Leute, die nicht mehr rein passten, hingen sich von außen an alles, woran man sich festhalten konnte, nur um doch noch mitzukommen. Abends kamen wir in Dresden an, wo das Rote Kreuz an alle Kranken und Kinder Tee verteilte.
Doch wir hatten nicht vor in Dresden zu bleiben. Wir wollten möglichst rasch Radeberg erreichen und blieben im Zug, der weiter fuhr. Die Nacht war sternenklar und verbreitete eine Kälte, die Mund und Nase gefrieren ließ.

Dresden steht in Flammen
Endlich bei Mutters Cousine Luise angekommen, heizte sie uns sofort den Ofen im Schlafzimmer, damit wir schnell schlafen konnten. Ein paar Tage nach unserer Ankunft kam Tante Luise rüber gerannt und rief, dass wir mitkommen sollten in den Luftschutzkeller, weil es wieder einen Fliegerangriff gäbe. Wir liefen alle in den Keller und kurz darauf spürten wir auch schon wie der Boden und der ganze Keller von Bombeneinschlägen vibrierte. Draußen hörten wir die Leute schreien und stöhnen, aus Angst, vor Schmerzen. Dabei war der Ruf zu hören: "Dresden steht in Flammen".
Ja, es war das der schreckliche 13. Februar 1945. Als wir aus unserem Kellerversteck kamen, sahen wir, der ganze Himmel war feuerrot und eine brennend heiße Luft wehte von der 11 km weit entfernten Stadt zu uns nach Radeberg. Es war im Freien nicht auszuhalten, die Augen brannten, die Luft war voller Schwefelgestank, voll Ruß und voll Asche. So liefen wir wieder in den Luftschutzkeller, wo wir für einige Stunden blieben. Das Ausmaß dieser Katastrophe wurde uns erst einige Tage später klar, als wir Kinder am Fluss spielten und plötzlich Säcke angetrieben wurden, mit verbrannten Leichen, die irgendwie entsorgt worden waren. Wir hörten auch, dass alle Tiere aus dem Zoo entlaufen waren und unterwegs in Richtung Elbe seien.
Wir wohnten noch zwei Wochen bei Tante Luise, dann fand Vatl eine eigene Wohnung für uns. Auch in Radeberg, in einem Eckhaus in der Pirnauer Straße, dort war eine Zweizimmerwohnung für uns frei, mit Betten, Esstisch und Küche.
Die meiste Angst hatte ich davor, dass eine der Bomben in einem der Gasbehälter einschlägt, die in dem bei uns angrenzenden Industriepark standen, denn dort musste ich immer vorbei laufen. Die folgende Zeit verlief etwas ruhiger, jedoch waren weitere Bombenangriffe zu erwarten. Aber wir hatten gelernt damit um zu gehen, wir wussten wie wir bei Fliegeralarm zu reagieren hatten. Im Haus gab es einen Luftschutzkeller mit Decken, Stühlen, Liegen, mit Wasser und dem Nötigsten zum Essen; auch Mundschutz und Gasmasken für die Retter, die raus liefen, um Verletzte von der Straße zu holen. Außerdem gab es einen Schrank mit allem Möglichen an Erste-Hilfe-Material. Wir bekamen auch erklärt, wenn eine Bombe in die Nähe fällt, hört man zuvor das Pfeifen. Als Erstes: sich auf den Boden werfen, denn der Luftdruck lässt die Lunge platzen.
Ich erinnere mich noch an den 1. Mai, an dem meine Mutter eigentlich mit den anderen Frauen zur Maiandacht gehen wollte. Wir hatten aber große Angst, dass ihr bei einem neuen Angriff etwas passiert. Also blieb Muttl zu Hause. Als wir anschließend dabei waren uns etwas zu Essen zu machen, fiel, als wenn wir es geahnt hätten, erneut eine Bombe. Zunächst schmissen wir uns also auf den Boden und da flogen auch schon die Fensterscheiben raus. Dann versuchten wir irgendwie alle in den Luftschutzkeller zu kommen. Es waren schon einige Leute unten, immer wieder kamen noch welche nach. Jedes Mal, wenn die Tür sich öffnete, wurden die Schläge von draußen lauter und dann wieder dumpfer, wenn sich die Tür schloss.
Zwei Männer trugen eine Frau auf einer Liege rein, sie war schwer verletzt und schrie, dass ihr Kind noch draußen sei. Nachdem sie der Frau ein Beruhigungsmittel gegeben hatten, hörten wir wie ein Mann sagte, dass der Junge draußen am Zaun verbrannt sei.
Als die Fliegerangriffe endlich wieder vorüber waren, versuchten wir uns irgendwie einen Weg aus dem Keller zu bahnen. Alles darüber war eingestürzt, die Treppe, die Türen, die Fenster, alles war nur noch in Schutt und Asche.
Aber mit der Zeit entspannte sich die Lage und immer mehr Leute redeten davon, dass der Krieg vorbei sei (am 8. Mai 1945, bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht). Doch was uns noch bevor stand, ob wir wirklich die weiße Fahne raus hängen konnten, das wussten wir nicht.
Es war alles sehr ungewiss, der Start in eine neue, in eine hoffentlich bessere Zukunft, das war unsere einzige Hoffnung.