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Vorwort
Mit dieser Niederschrift will ich der Heimat einen winzigen Teil des Dankes abstatten,
den sie verdient.
Wie sich die Vertreibung aus der Heimat zugetragen hat in den einzelnen Gegenden des
Ostens, das muß ja einmal festgehalten werden. Mir als früherem Pfarrer
der evangelischen Andreaskirchgemeinde in Namslau, lag es schon lange auf dem Herzen,
das aufzuschreiben, was ich von mir und anderen lieben Gemeindemitgliedern und Heimatgenossen
über die schicksalsschweren Tage und Monate des Jahres 1945 dort weiß. Bis
jetzt haben mich die Aufgaben der Gegenwart und eine gewisse - wohl begreifliche -
Scheu daran gehindert. Aber in den Januartagen des Jahres 1951 sagte ich mir: Wenn
Du es jetzt nicht tust, dann verblassen die Erlebnisse immer mehr, und wer weiß,
ob Du Dich noch jemals dazu aufschwingst.-
Und so habe ich die Niederschrift gewagt. Ich danke allen, die mir in ihren Briefen
darüber berichtet haben. Ein großer Vorteil ist es, dass der damalige Landrat
Heinrich mir seine Aufzeichnungen in kurzen knappen Stichworten zur Verfügung
stellte. Meine Rundbriefe haben ihn auf mich aufmerksam gemacht, und er ergänzte
so meinen Erlebnisbericht durch seinen behördlichen Bericht, der die Ereignisse
von seiner Namslauer Befehlsstelle aus sieht. Merkwürdigerweise kam er gerade
in jenen Tagen nach Namslau auf Urlaub.
Wenn auch schon 6 Jahre über die entscheidungsreichen Tage hinweggegangen sind,
ist es doch immer noch schwer, ein einwandfreies einheitliches Bild zu malen. Aber
ich meine doch mit meinen Aufzeichnungen den Eindruck wiedergegeben zu haben, den der
Sturm dieser Wintertage auf Gemüt und Verstand gemacht hat. Für Ergänzungen
und Berichtigungen bin ich dankbar. Wenn es mir geschenkt wird, will ich einen weiteren
Teil folgen lassen, der die letzten Kämpfe beschreibt und das Schicksal der Ausgetriebenen.
Ich erbitte dazu die Mitarbeit durch Zusendung von Berichten.
Gottfried Röchling
Pastor in Namslau 1930 - 1945
DIE VERTREIBUNG AUS DER HEIMAT
I. Krampfhafte Versuche, Schlesien in Verteidigungszustand zu setzen, im Jahre 1944
Je näher die russischen Heeressäulen unserer Heimat kamen, desto mehr erkannte
man die Notwendigkeit, den Heimatboden bereit zur Verteidigung zu machen. Dem Volk
wurde eröffnet, daß alle Kräfte zu Schanzarbeiten eingesetzt werden
müßten.
Die Hilterjugend wurde dafür bestimmt. Am 28. August 1944 erlebte ich auf dem
Hirschberger Bahnhof den rührenden Abschied der Hilterjungen von ihren Eltern.
Sie sollten nach den östlichen schlesischen Grenzstädten. In Groß-Wartenberg
und Festenberg lagen die Jungen zumeist auf den Böden der Häuser, da die
andern Unterkünfte nicht ausreichten.
Mädchen wurden zum Kochen und Nähen für sie eingezogen. Viele Zivilisten
wurden eingesetzt.
Von Breslau gingen sonntags die Schanzerzüge hinaus, um Breslau wehrhaft zu machen.
Am Mittwoch waren die Geschäfte wegen der Schanzaktion geschlossen.
Überall, auch in und um Namslau wurde geschanzt, geschanzt. Und man gab den ausgehobenen
Stellungen den Namen "Barthold-Stellung". Der Name stammt von dem nationalsozialistischen
Geschichtsroman "Vogt Barthold", der die Besiedlung Schlesiens z. Zeit der
Herzogin Hedwig schildert. - Ein damals 63-jähriger Namslauer Herr hat noch bis
zum 61. in Hennersdorf schanzen müssen.
Der alte Friedhof wurde durchgewühlt. Am Sportplatz wurden Stellungen gebaut.
Im freien Lande um uns, der polnischen Grenze entgegen, schachtete man Panzergräben
aus. Das Rittergut Glausche hatte 1553 Morgen. Davon gingen mindestens 320 bis 350
Morgen durch die Schanzerei für die Bebauung verloren.
Die Rüstungsindustrie kam nach Namslau. Alle noch verfügbaren Arbeitskräfte
dort eingestellt. Teile der Haselbach´schen Brauerei wurden dazu benutzt, das
soeben erst fertiggestellte Hitlerjugendheim auf der Wiese zwischen Schloß und
Stadtpark wurde dazu hergerichtet, und im Stadtpark wurde unter der Erde und über
der Erde gewühlt und gebaut, damit die "ELAC" aus Kiel Raum hätte
für ihre Produktionsbetriebe. Der Wohnraum wurde immer knapper.
Denn außer dem Militär und den Rüstungsarbeitern mußten ja auch
Evakuierte aus dem Westen untergebracht werden und seit dem Sommer 1944 Breslauer Schulkinder.
Es wurde schwer, die kirchlichen Versammlungen und den kirchlichen Unterricht überhaupt
noch aufrecht zu erhalten. Es war ja auch der Wille der NS-Regierung, dem lebendigen
Organismus der Kirche ihren Atem zu nehmen. Die "Herberge zur Heimat", die
in den letzten Jahren ihre Pflicht tat als Hospiz, wurde in ein Hilfskrankenhaus verwandelt.
Damit verloren wir den dortigen Versammlungssaal und die kirchliche Unterweisungsstätte.
Als Ersatzraum waren uns - völlig unzulängliche - zwei Hinterräume der
Gastwirtschaft Lange am Ring gegeben worden. Aber auch diese wurden uns wieder genommen
für Männer des Unternehmens "Barthold".
Evakuierte Volksdeutsche aus der Batschka zogen sei uns ein und wurden in den Schulen
untergebracht. Zum Teil kamen sie mit ihren auf der Bahn transportierten Pferde an.
Man sah sie auf ihren eigenartigen muldenförmigen Wagen durch die Stadt fahren.
So wurde uns das Schicksal von Menschen nahegebracht, die um des Krieges willen ihre
Heimat hatten verlassen müssen. Beim Begräbnis eines treuen volksdeutschen
Bauern aus reicher ungarischer Gegend wurde es uns ins Herz geprägt: Wir haben
hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
Ende 1944 und Anfang 1945 hielt ich den Konfirmandenunterricht für eine Gruppe
in unserm Eßzimmer. Es mußte zu diesem Zweck jedesmal ausgeräumt werden.
Für die größeren Gruppen war es zu klein. Ich mußte mir von einer
zur andern Stunde überlegen, wohin wir gehen sollten.
So hatte damals unser Grenzland schon eher die Last der Raumnot zu tragen als das übrige
Deutschland. Später in Sachsen und Westfalen wunderten wir uns, daß noch
größere Säle verfügbar waren.
Blinde Parteigenossen und ihre Anhänger glaubten immer noch an die Möglichkeit
eines "Sieges", solange wir in der Heimat waren. Wenn erst die große
Entscheidungsschlacht im Westen am Kanal geschlagen sein würde, dann würde
die Masse der Truppen wieder nach dem Osten geworfen werden, und dann... Solche Leute
glaubten auch, daß der Feind durch die Schanzgräben aufgehalten werden könne.
Man erzählte sich geheimnisvoll flüsternd von neuen Waffen, die es ermöglichen
würden, im eigenen Land dem Vormarsch Einhalt zu gebieten bis zur großen
Wende.
Nüchternes Wirklichkeitsdenken galt als Sabotage des Sieges. Abtransportiert durfte
beileibe nichts werden, weder Vieh noch Vorräte noch Kunstgegenstände noch
sonst etwas. Selbst das Verschicken von Stückgütern war verpönt. So
fiel der ganze noch vorhandene Reichtum des Landes später in die Hand des Feindes.
Herr Scholz-Altstadt wollte am 19.1.45 abends sein Großvieh mithilfe der französischen
Gefangenen abtreiben lassen. Es gelang nicht mehr. Er begründet das Scheitern
dieser Maßnahme mit der Kopflosigkeit der Kreisleitung. Und die Befestigungssysteme
haben nicht genutzt. Denn es fehlte an Waffen, es fehlte vor allen Dingen an Soldaten.
Am 5.Mai 44 wurde in Namslau (wie ähnlich wohl überall) eine Musterung im
Hotel am Stadttor gehalten. Man ging bis zu den 60-jährigen zurück. Der am
18.Oktober 44 aufgerufene "Volkssturm", das allerletzte Aufgebot, musste
eine stumpfe u. untaugliche Waffe bleiben.
Daß die Stimmung anfing, zugunsten des christlichen Gottesglaubens umzuschlagen,
merkte man an dem starken Besuch der Gottesdienste Weihnachten 1944. Als ich bei der
Christnachtfeier auf der Kanzel stand, sah ich im Schiff, auf den Emporen und in den
Gängen alles gedrängt voll. Es kamen sogar ohne Scheu Arbeitsdienstleute
in Uniform in die Kirche, was vorher streng untersagt war, und Wehrmachtshelferinnen
ebenso. An diesem Abend mögen an 2000 Kirchgänger dagewesen sein.
Beim Begräbnis des Arbeitsdienstmannes G. Thiel am 3.1.1945 war der Arbeitsdienstführer
nicht nur sehr höflich, sondern auch aufgeschlossen und dankbar für das,
was ich sagte.
Es waren tatsächlich alle Vorbereitungen zur Verteidigung seitens der Partei nur
Äußerungen eines krampfhaften Willens, etwas zu tun. Vielleicht hoffte man
auch, das Volk dadurch vom nüchternen Nachdenken über die Nähe und Größe
der Gefahr abzulenken. Und die Seele des Volkes gehörte schon nicht mehr "dem
Führer" und seinen Männern. - Es fehlten tatsächlich alle realen
und ideellen Voraussetzungen für eine wirksame Verteidigung des Heimatbodens.
In Wahrheit wurden Volk und Land dem heranstürmenden Feind ausgeliefert.
In Stunden kühlen Nachdenkens sagten wir uns, daß wenn die Russen und Polen
kommen würden, wir Deutschen ausgetrieben werden würden - und nicht mehr
zurückkehren dürften. Ein Komplott der damals in Namslau beschäftigten
polnischen Arbeiter, das die Ermordung führender Deutscher zum Ziel hatte und
noch beizeiten entdeckt wurde, zeigte, daß die Polen ihrer Sache sicher waren.
II. Die letzten deutschen Tage in Namslau
Der Russe war im Sommer 1944 noch einmal an der Weichsel aufgehalten worden. Unser
2. Sohn Dieter, der in Rußland kämpfte, hatte bei seinem letzten Heimaturlaub
Ende 1944 aus dem gutmeinenden Bewußtsein des deutschen Soldaten heraus uns versichert,
die Russen würden niemals Schlesien betreten. Anfang Januar bekamen wir von ihm,
datiert vom 11.1.1945, aus der Weichselstellung von einem Überholungskursus in
Frontnähe, einen sehr vergnügten Brief. Am 12.1.1945 brach der Russe durch
(Baranow-Brückenkopf). Nach genau 8 Tagen mussten wir die Heimat verlassen.
16.1.1945
Am 16.1.1945 traf meine Frau in der Frühe beim Milchholen einen deutschen Soldaten,
der nach dem Wehrmeldeamt fragte. Er erzählte, daß er von Tschenstochau
käme. Die deutsche Stellung dort sei geräumt - die Russen seien in der Stadt.
Um 12 Uhr noch seien die Deutschen auf ihrem Rückzug in Tschenstochau gewesen,
um 14 Uhr die Russen. Sie, die deutschen Truppen, seinen alle versprengt, er müsse
sich hier melden. Am 18.1.45 fragte ich in Lorzendorf den Generalfeldmarschall von
Manstein, wie die plötzliche Räumung von T. zu erklären sei bei dem
3-fachen Verteidigungsgürtel. Er erwiderte, der 1. Ring sei schwach, der 2. und
3. gar nicht besetzt gewesen. Also Truppenangelegenheit. - Tschenstochau liegt 100
km entfernt von Namslau.
In den ersten Januartagen war das Leben in Namslau verlaufen wie immer. Man tat seine
Arbeit. Unsere Tochter war am 8. und 15.1.45 in Breslau beim Jungmädchenwerk,
ich selbst hatte am 19.1. dort zu tun. Die Schwester meiner Frau kam am 12.1.45 nochmals
von einer Reise nach Braunschweig und Berlin zurück. Den letzten Gottesdienst
in unserer Andreaskirche hielt ich, ohne das zu wissen, am 14.1.1945 bei einer Innentemperatur
von +1°. Es war der letzte Gottesdienst in dieser Kirche dort überhaupt. Obwohl
wir Kohlenvorräte besaßen, durften wir die Kirche nicht mehr heizen. Die
Nachrichten von d. West-, Süd- und Ostfront waren ernst. Montag, den 15.1.1945,
waren zwei Soldaten aus dem Lazarett "Krüppelheim" bei uns zu Gast.
Der eine, ein Mathematik-Student aus Bethel, erzählte, er habe bei der Kreisleitung
Berechnungen ausführen müssen über Aufstellung und Reichweite von Verteidigungsgeschützen
im Kreis Namslau (jetzt schon!)
17.1.1945
Als ich am Mittwoch, 17.1., aus meiner Vertretungsgemeinde Mühlwitz mit der Bahn
zurückkam, fand ich bei meiner Ankunft die Bahnhofshalle übervoll in einer
Art, wie ich es niemals erlebt hatte. Auf meine erstaunte Frage erhielt ich die Antwort
"Ja, das sind Kreuzburger Flüchtlinge. Man hat sie mit Autos hierher gebracht,
weil der Kreuzburger Bahnhof verstopft wär" (Übrigens lag N. an derselben
Strecke wie Kreuzburg).
War es an diesem Tage, daß ich am Bahnhof eine frühere Konfirmandin von
mir aus Kaulwitz traf? Eine Bauerntochter. Sie sah sehr schwarz und erzählte,
daß ihr Bürgermeister, seiner Verantwortung bewußt, allen geraten
hätte, ihre Wagen zu packen und so in die Scheune zu stellen.
Am 17.1.1945 beginnen LKW´s von der Ostfront bei uns vorüberzufahren. Unser
Haus lag an der Straße, die auf der einen Seite nach Kreuzburg, auf der andern
nach Oels weiterging (Reichsstrasse 117). Diese Militärfahrzeuge waren auffallend
unordentlich bepackt, wie früher nie. Wir denken, daß wir rückwärtiges
Gebiet werden.
Meine Frau bringt eine Kiste mit ihren liebsten Büchern auf die Bahn.
18.1.1945
Donnerstag, den 18.1., fahren die ersten Trecks aus Blachstädt O.S. bei uns vorüber.
Meine Bücherkiste wird nicht mehr angenommen. Ich hätte an diesem Tage nach
Mühlwitz zum Konfirmandenunterricht fahren müssen (35 km). Aber das Leben
ist so merkwürdig verändert. Pastor August rät mir ab, Namslau zu verlassen.
Es gelingt mir nicht mehr, in Mühlwitz anzurufen. Viel viel später erfuhr
ich, daß dort schon alles in Auflösung gewesen sei und kein Kind mehr daran
gedacht haben würde, zu erscheinen. Beim Mittagbrot telephonischer Anruf von Frau
von Loesch (Lorzendorf): Maria v. Loesch soll getraut werden. Alles ist vorbereitet.
Aber ihr Konfirmator aus Breslau, der trauen soll, kommt nicht. Ob ich einspringen
will? Lorzendorf gehört zwar nicht zur Kirchgemeinde Namslau. "Selbstverständlich
komme ich." Das ganze Dorf ist in der kleinen Kirche versammelt. Beim Trau-Essen
sitze ich dem Generalfeldmarschall von Manstein gegenüber. "Ja, jetzt wird
unser Land hier Kampfgebiet. Wir werden fühlen, was das heißt."
Während des Essens soll die Nachricht gekommen sein, es müsse geräumt
werden (Nach 8 Tagen etwa traf ich den Lorzendorfer Treck im Kreise Reichenbach).
In eigenartig gefaßter Stimmung fuhr ich mit andern Gästen im Schlitten
nach Namslau zurück. Am Horizont in der Ferne - waren das aufblitzene Mündungsfeuer
von Geschützen?
Um 7 Uhr in Namslau. Fliegeralarm! Sofort in den Luftschutzkeller. 1/2 8 bis 1/2 10
Uhr ist die Hausgemeinschaft dort versammelt. Der Hausbesitzer Gollnisch will am nächsten
Tage seine Frau fortbringen. Um 22 Uhr Essen. Es hat getroffen auf der Böhmwitzer
Straße bei Müller und bei Lenart. Bei uns sind nur Fensterscheiben entzwei.
Wir packen die Nacht durch bis 4 Uhr früh für unsere Tochter, Schwägerin
und uns - vorsichtshalber.
19.1.1945
III. Der Tag der Vertreibung - 19.1.1945
Beim Aufstehen nehmen wir einen ganz eigenartig fahlen Schein am Himmel wahr. Merkwürdiges
Licht überall. Dora hatte das Gefühl: Sind wir vielleicht noch allein in
Namslau, und die übrige Stadt abgerückt? Es ist alles so still. In der Nacht
kann sich noch allerhand ereignet haben. Im Losungsbuch der Brüdergemeinde steht:
"Gedenke an den Herrn, Deinen Gott, er ist´s, der Dir Kräfte gibt"
(5.Mose 8 V.18 und: "Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht,
Christus" Phil.4, V.13).
Aber der Tag bringt seine Pflichten. Am Montag, den 15.1., war in unserer Wohnung neben
meinem Arbeitszimmer unsere Mitbewohnerin, Frau Tebbe, gestorben. Sie soll heute begraben
werden. Ich bespreche das mit ihrem Mann. Das Telephon klingelt. Ich soll zu Frau Buia,
ihr Kind zu taufen. Um 9 Uhr gehe ich zu ihr und lege (das letzte Mal in Namslau) meinen
Talar zur Taufe an, wir nehmen das Kindlein auf in Gottes Gnadenreich, bevor d. Mutter
das Haus verläßt. Der junge Vater ist im Feld. Ich tröste die junge
Mutter. Die Jahreslosung heißt: Lasset uns aufsehen auf Jesus, den Anfänger
und Vollender des Glaubens.
Der Großvater des Kindes, der einen Auftrag hatte für Pferdemusterung (?)
teilt mit: "Es ist Räumung befohlen. Wir fahren unmittelbar nach der Taufe
ab. Sie werden doch nicht dableiben?!" "Man weiß es nicht! Es heißt,
es fahren Lautsprecherwagen durch die Straßen, die die Weisung geben." -
Man telephoniert hierhin und dorthin zwischen der gewohnten Arbeit. Meine Frau geht
in´s Krankenhaus und bittet, daß eine schwer beinkranke Frau mitgenommen
werden soll, wenn der Befehl käme.
Truppen in Fahrzeugen fahren von Ost nach West an unserm Haus vorüber. Soldaten
treten für einen Augenblick in den Flur, um sich zu erwärmen. Man sieht auf
der Straße Leute mit bepackten Handschlitten. Meine Frau erkundigt sich in Nachbarhäusern
nach der Lage. Wir essen zu Mittag. Dann rüsten wir für die Abfahrt meiner
Schwägerin und Tochter mit dem gerüsteten Pferdewagen des Hausbesitzers Gollnisch
(Lastwagen mit Plane und angehängtem Auto). Er fährt mit Frau Pastor Langer
mit ihren 4 Kindern und Frau Gollnisch mit 2 Kindern und noch einer Frau zur Hilfe
in Richtung Ohlau ab. Kutscher ist ein Volksdeutscher aus der Batschka, der seinen
Sonntagsanzug angelegt hat. Der eigentliche Kutscher ist zum Volkssturm einberufen.
Um 15 Uhr setzt sich das Frauenfluchtgefährt in Bewegung. Der treue Mann ergreift
die Peitsche zu seiner zweiten Flucht und spricht mit Betonung: "In Gottes Namen!"
Langsam geht´s zum Tor hinaus in Richtung Stadtwald. Da fahren zwei Frauen in´s
Ungewisse, die eine ist guter Hoffnung, die andere weiß ihren Mann an der ostpreussischen
Front. Aber was sie noch nicht weiß, ist, daß er dort vor 3 Tagen gefallen
ist.
Im Haus ist nun oben und unten nur noch mein treues Weib und ich. Wir wollen bei der
Gemeinde bleiben. In dem Haus im Hof hinten ist noch unser zum Volkssturm einberufener
Hausbesitzer.
Gegen 14 Uhr war durch den Lautsprecher auf dem Ring bekannt gemacht worden, es liege
kein Anlaß zur Räumung vor. Jeder hätte dazubleiben. Wer fortginge,
würde polizeilich zurückgeholt.
Der Besitzer von Altstadt, Herr Herbert Scholz, hat diese Rede des Kreisleiters Fischer
auf dem Ring selbst mit angehört und berichtet, Fischer habe gesagt, der Russe
sei zum Halten gebracht worden, es bestünde überhaupt keine Gefahr, man solle
keine übereilten Maßnahmen treffen. Falls Gefahr drohe, werde die Bevölkerung
von Stadt und Land rechtzeitig benachrichtigt werden, eventuell auf den Treck zu gehen.
Im übrigen wies er mit besonderer Schärfe darauf hin daß jeder, der
eigenmächtig handele, bestraft werden würde. Im besonderen verdammte er das
eigenmächtige Handeln von Herrn Braune-Krikau, der seiner Gefolgschaft geraten
haben solle, alles zu packen und auf die Treckwagen zu verstauen. In der Kreisleitung
hörte Herr Scholz später von Fischer noch einmal das selbe.
Ich hielt es daraufhin für meine Pflicht, in der Gemeinde zu bleiben. Meine Frau
entschloß sich, bei mir auszuharren.
An diesem Nachmittag machten sich Soldaten auf dem Rückmarsch in unsere Küche
ihre Fischkonserven warm und bekamen heißen Kaffee als Erquickung bei der Winterkälte.
Auch wollten Offiziere ein Zimmer zu einer Besprechung haben. Sie sollten es gerne
bekommen. Ich hatte Gemeindebesuche vor. Meine Frau ging und kaufte ein Brot - wie
immer auf Marken. Am Vormittag sollen durchziehende Soldaten beim Fleischkauf auch
noch Marken haben abgeben müssen. Nur der Schuhhausinhaber Woitschig soll am 19.1.
Schuhe frei verkauft haben.
So sah das aus, was wir an diesem Tage bis dahin wußten. Wir wußten aber
nicht , daß schon früh um 1/2 9 Uhr im internen Dienst die Räumung
der Stadt angeordnet worden war. Ein Volkssturmmann teilt mir mit, daß er früh
um 1/2 9 Uhr auf dem Landratsamt als Melder eingeteilt worden war. Und während
der Lautsprecher am Ring den Bewohnern in die Ohren schrie, was oben gesagt wurde,
stand der Wagen des Kreisleiters vollbepackt in der Autohandlung Thienel und wurde
dort nachgesehen und auf Fahrsicherheit untersucht (Aussage eines dort beschäftigten
Schlossers).
Um 17 Uhr wurde der Befehl von 14 Uhr ins Entgegengesetzte geändert: Jede einzelne
Wohnung müsse geräumt werden, keiner dürfe bleiben. Also nun wirklich:
Allgemeine Räumung! Wir wohnten von diesem Lautsprecher zu weit ab, als daß
wir ihn hätten hören können. Aber der Inhalt verbreitete sich wie ein
Lauffeuer durch die Stadt. Nur wußte keiner, wie er fortkommen sollte. Bei uns
auf d. Wilhelm-Straße hieß es, es werde ein Pferdetreck auf dem Viehmarkt
zusammengestellt (Aber wo sollten in der Stadt dazu die Pferde herkommen!!). Frauen,
die dort gehorsam darauf warteten, bis etwa zur Mitternacht, sind nachher mit Kinderwagen
durch die kalte Winternacht zu Fuß nach Brieg an der Oder gegangen, das sind
32 - 35 km. Unsere Gemeindehelferin fuhr auf eigene Faust m. Rad auf vereister Landstrasse
zu ihrer Freundin nach Carlsruhe O.S., ohne zu wissen, ob es nicht vielleicht den Russen
entgegen ginge. Andere wieder verließen die Stadt schon früher, am 18.1.
mit der Bahn, wieder andere gingen mit Handwagen am 19.1. durch den Stadtwald nach
Ohlau. Wer in der Stadtmitte, näher am Bahnhof wohnte, hoffte wohl noch, mit irgend
einem eingesetzten Zug mitzukommen.
Ich suchte mich telephonisch mit den Behörden in Verbindung zu setzen, bekam aber
weder beim Bürgermeister noch bei der Kreisleitung noch beim Landratsamt Anschluß.
Man war auf sich selbst angewiesen. Er Leutnant Sch. aus Aachen sagte in unserm Haus,
es auch hier genau, wie es im Westen gewesen sei - alles zu spät. Sehr dringlich
warnte er: Die Russen seien näher als wir glaubten. Er riet uns sofort so schnell
wie möglich fort zu gehen. Meine Frau fragte ihn, ob er noch etwas brauchen könnte?
- "Ja, ein Handtuch; die Russen nehmen ja doch bald alles. Wir sollten fort aus
dem Kampfgebiet, aber wie? Vom 18. her wußten wir, daß die Eisenbahn ihren
regelmäßigen Dienst eingestellt hatte. Er riet uns als Deutsche uns auf
die Straße zu stellen und uns von einem Wehrmachtswagen mitnehmen zu lassen.
Und die Kirchenbehörde? Von einer Weisung des Konsistoriums wußte ich nichts.
Die Bekennende Kirche hatte gesagt: Geht dahin, wohin die Gemeinde geht.
Durch einen freundlichen persönlichen Hinweis eines lieben Frauenhilfsmitgliedes,
das bei der NSV arbeitete, wußte ich, daß der Kreis Reichenbach (Eule)
als Auffangkreis für den Kreis Namslau vorgesehen war. Darum konnte man dort hoffen,
einen großen Teil der Gemeindemitglieder wiederzufinden. Bei dem Fehlen aller
meiner Richtlinien von oben her für die Art der Räumung blieb es der Initiative
jedes Einzelnen überlassen, wie er fortkäme. Darum konnte man in diese auf
äußerste Eile drängenden Lage auch nichts für andere Gemeindemitglieder
tun.
Unser Hausbesitzer erschien so etwa gegen 17.30 Uhr noch einmal bei uns und fragte,
wie wir es mit den Schlüsseln halten wollten. Ich sagte: Ich lasse alles offen.
Er meinte, er wolle nun sein "Parteihemd" verbrennen. Es sei doch alles aus.
In unserm Eß-Zimmer stand noch der Christbaum, eine schöne Tanne. Wir hatten
ihn länger stehen lassen als sonst.
Es mag 18 Uhr gewesen sein, da verließen meine Frau und ich unsere Wohnung, so
wie alles stand und lag, und damit stand das Haus leer. Wir zogen unsere selten gebrauchten
Winterpelze an und nahmen jeder ein kleineres und ein größeres Gepäckstück
in die Hand. Mir platzte der Rucksackriemen beim Umhängen über den dicken
Pelz. Ohne uns umzusehen gingen wir aus dem Haus und stellten uns auf die Ost-West-Straße
vor unser Haus und versuchten, Militärwagen anzuhalten. Sie hatten aber andere
Befehle. So schleppten wir unsere Sachen und Decken nach dem Litzmannplatz und hofften,
dort mitgenommen zu werden. Es glückte. Wir räumten unsere Sachen in den
dunkeln Kasten mit andern unbekannten Leuten zugleich, stiegen ein und warteten, wohin
es gehen würde. Nach einer Weile ging es in Richtung Hohe Brücke. Ich hoffte,
daß wir nicht nach Breslau gebracht würden. Denn daß dort eine fürchterliche
Verstopfung aller Straßen und Brücken über die Oder drohte, war mir
klar. Im völlig verschlossenen fensterlosen Wagen tastete ich nach meinem Besitz.
Keiner hatte eine elektrische Taschenlampe. Ich fand meinen Rucksack nicht, in dem
die Sparkassenbücher, Bibel und Gesangbuch waren, und wagte es, in der Nähe
unseres Friedhofes noch einmal auszusteigen und über die Bahnbrücke im Dauerlauf
zurückzurennen. An beiden Brückenenden meinte ich Pioniere zu sehen, die
sich an der Brücke zu schaffen machten. Im Laufen sah ich in Richtung Nord oder
Nordost hellen flackernden Schein am Nachthimmel. Am Litzmann-Platz fand ich den Rucksack
nicht, gab die Suche auf und rannte denselben Weg zurück, beseelte von dem Gedanken,
den Wagen mit meiner Frau wiederzufinden. Ich hatte mir seine Nummer gemerkt. Endlich
fand ich ihn an einer weiter entfernten Stelle unter vielen anderen Wagen. Aber ein
wütend schreiender Feldwebel verwehrte mir das Einsteigen. Ich sagte ihm von meiner
Frau und meinem Gepäck. "Alles gleich", meinte er. "Ihre Frau fährt,
Sie bleiben hier, Sie gehören in den Volkssturm." War es wohl Befehl, den
Volkssturm jetzt noch zu vermehren? Ein damals 63-jähriger Lehrer, schon pensioniert,
schrieb mir, daß er in der Nacht um 2 Uhr seine Frau zum Zuge gebracht habe,
aber selbst nicht mitgenommen worden sei. - Schließlich winkte mir der Fahrer,
still beiseite zu treten. Beim Einsteigen hatte ihn meine Frau einen Schluck aus der
Feldflasche tun lassen. Als der Wütende sich etwas entfernt hatte, rief mich der
Chauffeur neben sich auf seinen Sitz. Ich sollte mich aber tief bücken. So bin
ich denn tief gebückt aus dem Ort meiner Gemeinde herausgefahren, wo ich 15 Jahre
gearbeitet hatte. Viele standen am Wege mit ihren Bündeln. Beim Anhalten mußte
ich mich immer wieder verstecken, bis es ins Freie hinausging. Nun konnte ich in der
mir wohlbekannten Gegend dem Chauffeur Führerdienste tun. Meine Frau im Innern
des Wagens wußte nicht, ob ich wieder hatte einsteigen können. Ich konnte
mich ihr nicht bemerkbar machen, das ein Hohlraum zwischen uns war.
Viel zum Nachdenken über das weiter Schicksal unserer Heimat und unserer Gemeinde
kam ich nicht. So ging es wohl allen. Das war eine Gnade. Ich wünschte nur, daß
unser Haus möglichst bald durch eine Bombe vernichtet werden möge, damit
nicht alles, woran man hing in die Hände roher Menschen fiele. In der Nacht vom
20. / 21. Januar standen wir auf dem Bahnhof in Heidersdorf und hörten die Nachrichten
des Rundfunks. Da wurde der Raum Namslau im Wehrmachtsbericht genannt.
Bei der Fahrt in´s Ungewisse klangen die Losungsworte vom Morgen des 19.1.1945
in meinem Innern: "Gott ist´s der dir Kräfte gibt" - und "Ich
vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus".
Solcher Trost war notwendig. Denn erschütternd war, was wir zum ersten Mal schon
auf der Landstraße Namslau - Brieg sahen. Und wieder, wie schon in den letzten
Tagen, ging mir das Schriftwort durch den Sinn: "Bittet, daß eure Flucht
nicht geschehe im Winter." Wir selbst fuhren in der Mitte des Fahrdammes. Rechts
von uns in derselben Richtung bewegte sich ganz langsam und mühselig ein trauriger
Zug: Der Treck der aus der Heimat verjagten Bauern mit ihren Wagen, hier und dort Vieh
dazwischen. An gewissen Punkten hielten sie immer wieder einmal an, wenn die Wagen
zu dicht aufeinander prallten. Die Bodenständigen, die das Land bebauten, die
das Land "besaßen" -im wahrsten Sinne- auf dem Vertriebenenwege! Würden
Sie dem Feind entgehen? Würden sie jemals zurückkehren?
Und auf der anderen Straßenseite kam uns entgegen, zwei und zwei, still marschierend
ein Haufen deutscher Soldaten mit ihren weißen Stahlhelmen, der nun in die leeren
Stellungen einrücken und zusammen mit dem Volkssturm die Heimat verteidigen sollte!
Jetzt schon?! Was stand ihnen und uns bevor?
Brieg ist nahe. Aber der Wagen stoppt. Sperrposten an den Oderbrücken. Was ist?
Fliegeralarm. Wir warten eine Weile. Dann passieren wir die Brücken, eine nach
der anderen, und fahren in die dunkle Stadt ein. In der Nähe einer Schule werden
unsere Wagen auf der Straße entladen. Große Massen Evakuierter, dazwischen
Volkssturmleute, erfüllen gespenstisch die Straßen. Die Evakuierten strömen
zur Schule.
Mir war der Superintendent B. bekannt. Wir bringen unser Gepäck auf geliehenem
Handschlitten in seine Wohnung. Er selbst und seine Frau sind nicht da, sie haben die
verheiratete Tochter n. Steinseiffersdorf im Eulengebirge gebracht. Wir übernachten
dort, Ankunft 23.30 Uhr.
So war die erste Nacht fern der Heimat noch freundlich für uns. - Der Abschied
lag nun hinter uns. Der 19. Januar 1945 als unser Schicksalstag hat sich tief in unser
Gedächtnis eingegraben - Räumung des rechten Oderufers!
Am nächsten Morgen suchten wir unter der großen Menge der in den Schulen
Untergebrachten Gemeindeglieder und konnte eine ganze Anzahl sprechen.
Was wird nun? Wie weiter? Ich spreche mit den Stellen der Lagerleitung. Man berät
noch. Der Landrat (genau weiß ich nicht, war er´s?) versucht, die LKW´s
zum weiteren Abtransport einzusetzen. Er bekommt sie nicht. So soll es mit der Bahn
weitergehen.
Wie wir erst viel später erfahren, waren die Dörfer um Namslau auch in den
Abend- und Nachtstunden des 19. Januar im Pferdetreck geräumt worden.
Die Ortsgruppenleiter und Bürgermeister scheinen den Räumungsbefehl zu verschiedenen
Zeiten bekommen zu haben. In dem großen Dorfe Wilkau war am 19.1. früh angeordnet
worden, daß am 20. Früh 06.30 Uhr abgerückt werden solle. Der Befehl
wurde geändert. Es wurde am 19.1. um 23.30 Uhr durch Alarmblasen die sofortige
Evakuierung befohlen. Da alles vorbereitet war, wurde es möglich, daß sich
das Dorf schon um 00.30 Uhr auf dem Abmarsch befand.
Der Bürgermeister von Krikau schreibt: " Wir haben in Krickau keinen Befehl
zur Räumung bekommen, weil der Fernsprecher nicht mehr in Ordnung war und die
Verbindung zu Partei und Landratsamt nicht mehr funktionierte. Ich habe aber meinen
Namslauer Bruder erreicht, als ich am Nachmittag persönlich die Feuersäulen
in Glausche gesehen hatte und Flüchtende, die durch meinen Hof kamen, berichteten,
daß die Russen durch Glausche im Laufe des Tages hindurch über Schmograu
auf die Chaussee Paulsdorf - Pangau weitergefahren seien (angeblich Panzer). (Herr
Friedrich Sroka: "Gegen 17.00 Uhr brachen zwei russische Panzer in Glausche ein.")
Meinen Bruder erreichte ich noch gerade, ehe er selbst abfuhr, und hörte von ihm,
daß in Namslau der Befehl zur Räumung gegeben sei. Daraufhin habe ich .........
die Mobilisierung zum Treck anordnet. Es war etwa 7 Uhr abends. Der Treck stand gegen
11 Uhr nachts marschbereit. Überschreitung der Oder bei Peisterwitz am Sonntag,
den 21.1.1945.
Altstadt bekam um 17.00 Uhr Befehl, in 2 Stunden abzurücken. Um 20.00 Uhr Abmarsch
unter Führung zuerst vor Warbrandt. Die Landbevölkerung hat ihre Wagen noch
verhältnismäßig ordentlich bepacken können und für´s
erste mehr gerettet als die Städter. Später freilich hat sie in der Tschechei
so gut wie alles eingebüßt - bis auf Ausnahmen. -
Es wurden alle drei Wege über die Oder benutzt. Die Trecks gingen bei Brieg und
Ohlau über den Fluß, die Eisenbahn wie auch sonst in Breslau.
Wie bewußt und gesammelt doch auch in diesem Trubel der Abschied von der Heimat
begangen werden konnte, hat mir später eine Gutsfrau erzählt:
Als der Treck abfahrbereit stand, ging sie noch einmal durch alle Räume, sah auch
die Schlafräume in Ordnung wie immer, setzte sich noch einmal an den Flügel
und spielte ein Bach´sches Präludium. An der Haustür machte sie noch
einmal Halt, betete still ein Vater unser, schloß ab und versenkte zum Schluß
den Schlüssel im nahen Teich. Dann bestieg sie den Wagen.
Bericht des früheren Landrats Heinrich
über die letzten Tage in Namslau
Donnerstag, den 18. Januar 1945
Verstärkter Flüchtlingsstrom aus dem Gebiet um Litzmannstadt und Posen durch
Namslau in Richtung Breslau.
Nachmittags Befehl an den Chef des Reservelazaretts N., am nächsten Tage lt. Verlegungsplan
d. Lazarett nach Bad Landeck, Grafschaft Gatz, zu verlegen. In den Abendstunden leichter
Fliegerangriff auf Namslau.
Mitternacht: Eintreffen von Landrat Heinrich aus dem Westen. Absicht: Nur Abholen von
Wintersachen und Orientierung über die Lage.
Freitag, den 19. Januar 1945
05.00 Uhr Anruf aus Wielun od. Umgebung bei Landrat H., daß dort die Russen umherstreifen.
08.00 Uhr Besprechung mit Kreisleiter Fischer über Abtransport der schwangeren
Frauen und Räumung des Kreises. Kreisleiter Fischer bestreitet die Gefahr. Tel.
Rücksprache mit Reg.-Präs. Kroll (Breslau) über Militär und zivile
Lage. Präs. Kroll glaubt, daß mil. Kräfte zum Gegenstoß antreten
werden. Hinweis von Landrat Heinrich, daß sicherheitshalber schwangere Frauen
und Sieche abtransportiert werden müssen. Befehl an Fahrbereitschaftsleiter Ilchmann
gegen 9.00 Uhr, alle verfügbaren PKW und LKW für 11.30 Uhr auf General-Litzmann-Platz
b. Pietzonka zu bestellen.
10.00 Uhr Eintreffen eines Adjutanten von Generalfeldmarschall von Manstein, der schleunige
Räumung empfiehlt, besonders aller Ortschaften vor der Barthold-Linie.
10.30 Uhr Beschlagnahme sämtl. Treibstoffes durch Oberquartiermeister IV: Panzerarmee.
11.30 Uhr Besprechung mit O.Qu.IV.P.-Armee und Kreisleiter Fischer. 1,5 cbz Benzin
und Dieseltreibstoff werden für zivile Zwecke freigegeben, Rest für militärische
Aufgaben.
13.30 Uhr Ansprache von Kreisleiter Fischer über Lautsprecher auf dem Marktplatz
an die Bevölkerung, auszuhalten und Ruhe zu bewahren, es bestehe keine unmittelbare
Gefahr.
13.45 Uhr Eintreffen des bisherigen Landrats von Tomatschow b. Landrat H., der nach
Kreuzburg ausweichen will. Telf. Anruf in Kreuzburg ergibt keine Verbindung mehr.
14.00 Uhr Besprechung mit Kreisleiter F. über Abtransport von 600-1000
hilfsbedürftigen Frauen und sonstigen Personen mit der Eisenbahn, da die Aktion
11.30 Uhr ab Gen.-Litzmann-Platz infolge Ausbleiben der Kraftfahrzeuge scheiterte.
15.00 Uhr Eintreffen von SA-Obergruppenführer Herzog in der Gegend Kaulwitz.Obischau
berichtet. Der gesamte Volkssturm von Namslau besetzt den Stadtrand zur Abwehr ev.
Russischer Panzerstreifen.
15.30 Uhr Räumungs-Befehl für den gesamten Kreis u. telf. Anruf bei Reg.
Breslau über Lage und Anforderung von Eisenbahnsonderzügen, da Räumungsplan
derr NSV undurchführbar. Bauern nehmen keine Städter auf den Pferdefahrzeugen
mit.
Ab 16.00 Uhr Räumung des Landratsamtes, Verladung des Lazaretts auf LKW. Als letzte
des Lazaretts verlassen Dr. Kusche´ mit Frau Heinrich gegen 22.00 Uhr Namslau
über Strehlen nach Bad Landeck. Konzentrierung der Polizei, der leitenden Beamten
des Landratsamtes, Kreisbauernführer usw. in der Telefon-Zentrale des Landratsamtes.
Ab 20.30 Uhr bis zum nächsten Morgen Eintreffen v. 5 Personenzügen, in denen
je 1500 Personen aus der Stadt abtransportiert werden. 22.00 Uhr: Polizei-Oberleutnant
Rahmel gibt Alarm und behauptet, daß russische Panzer auf dem Marktplatz erschienen
sind. Fehlmeldung! Organisierung der Ortsabwehr durch Landrat H. im Einvernehmen m.
dem Kampfkommandanten von Namslau, Oberstleutant des Schweidnitzer Ers.-Battl...
Sonnabend, den 20. Januar 1945
Ruhiger Nachtverlauf, geringer Geschützdonner in Richtung Buchelsdorf, Reichthal.
Organisierung des Abtransports von Lebensmitteln mit dem Ib der in Oels stationierten
Division (Butter und Zucker). Kampflärm aus Richtung Reichthal. Gegen 12.00 Uhr
sind fast alle Ortschaften des Kreises menschenleer. Teile der PKW-Kolonne, die am
Vortage die hoch-schwangeren Frauen und Kleinkinder nach Brieg gebracht haben, kehren
mit Kreisbaumeister Sternitzke und dem Kreisfeuerwehrführer Jakob nach Namslau
zurück. Am Nachmittag weitere Räumungsmaßnahmen zum Abtransport von
Vieh und Lebensmitteln in den Namslauer Geschäften. Vordringen der Russen bis
Reichthal und Konstadt Lage bei Schwirz ungeklärt.
Gegen Mitternacht angebliches Vordringen der Russen nach Giesdorf und Obischau erweist
sich als unzutreffend. 4 Geschütze gehen nördlich des Stadtparks in Stellung.
Sonntag, den 21. Januar 1945
04.00 Uhr Einsetzen von deutschen Truppen im Ostteil von Namslau (Böhmwitz) zur
Ortsverteidigung mit dem Volkssturmbattaillon Köhn. Teilweise Panik beim Volkssturm.
07.30 Uhr Eintreffen von deutschen Panzern aus Brieg (10. und 3. Sturmgeschütz),
die nach Glausche geleitet werden. Angriff gegen die in Reichthal befindlichen Russen
kann wegen Benzinmangel nicht gefahren werden und kommt erst gegen 11.30 Uhr in Gang.
Deutscher Angriff wird von russischer Pak abgewiesen gegen 13.00 Uhr.
10.00 Uhr Einrichtung einer militärischen Verpflegungsstelle in der ehemaligen
Werk-Küche der deutschen Arbeitsfront. Aufbrechen einer Anzahl Geschäfte
am Markt zur Bergung von Lebensmitteln. Die Russen erreichen Noldau.
13.00 Uhr Erste Arillerie-Einschläge in Namslau an der Hohen Brücke und bei
der "Landwirtschaftsbedarf". Die letzten Beamten des Landratsamtes und der
Kreisbauernführer Seidel verlassen in PKW die Stadt in Richtung Ohlau.
14.00 Uhr: Kreisleiter verläßt bei verstärktem Artilleriebeschuß
die Kreisleitung.
14.30 Uhr: Letztes Telefongespräch von Landrat H. mit Oberreg. Engel (Regierung
Breslau) aus der Telefonzentrale des Landratsamtes in Gegenwart des Uffz. Moritz (Kartoffelverwertungsgenossenschaft).
In Breslau wird Sonntagsdienst gemacht!! Reg.-Präs. Kroll unerreichbar.
15.00 Uhr: Bürgermeister Sroka verläßt mit dem Rad Namslau. Löffel:
"Wir verließen die Stadt in Richtung Windisch-Marchwitz."
15.45 Uhr: Noch stärkerer Artilleriebeschuß, die Russen haben bereits Grambschütz
erreicht. Deutsche Truppen ziehen sich zurück.
16.00 Uhr: Besprechung mit Kampfkommandanten in der Brauerei Haselbach, der gerade
vom Divisionskommandeur Oels Räumungsbefehl erhält. Standortältester
von Mackensen bespricht mit Landrat H. Vernichtung des Wehrkreis-Sanitätsparks.
Baumeister Puchalla geht unerkannt an Landrat vorbei u. bleibt in der Stadt.
16.45 Uhr: Landrat H. verläßt Brauerei Haselbach und fährt
17.00 Uhr: mit Kraftfahrer Mühlbach und Moritz von Gastwirtschaft Opitz nach Ohlau.
Kampfkommandant weicht nach Bernstadt und Oels aus, da Umfassung der Kreisstadt von
Nordwesten und Süden droht. Die Russen waren um 16.00 Uhr bereits in Mülchen.
19.00 Uhr: Gärtner Stojan zündet den Wehrkreissanitätspark an.
19.30 Uhr: Landrat H. trifft in Ohlau ein und weist dortigen Landrat Brass auf drohende
Gefahren für die Gebiete nördlich der Oder hin.
22.00 Uhr: Eintreffen in Strehlen b. Landrat Sell.
Montag, denn 22. Januar 1945
Weiterfahrt nach Landeshut über Waldenburg. In Landeshut einrichten einer Namslauer
Zweigstelle unter Oberinspektor König und Kreissparkasse.
Die Russen besetzen um 6.30 Uhr die Stadt Namslau.
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Anmerkung zu diesem Bericht des Landrats Heinrich betr. Abtransport der
Feuerwehrspritze u. anderer Feuerwehrgeräte.
Herr Hugo Röhricht schreibt:
" In der Nacht vom Sonnabend zu Sonntag kam die Anordnung vom Herrn Landrat, daß
die noch anwesenden Feuerwehrmitglieder die Motorspitze ect. nach Brieg abtransportiern
sollten. Viehhändler Sämann und ich taten dies. Sonntag früh kamen wir
zur Abholung anderer Geräte wieder zurück. Die Straße Brieg - Namslau
war durch Trecks gesperrt, daher Umweg über Ilnau - Carlsruhe, obwohl in Ilnau
uns die Soldaten nicht mehr durchlassen wollten. In Namslau trafen wir Sonntag früh
den Friedhofverwalter Kühnel mit dem Sanitätswagen im Hof des Wasserwerks.
Wir sollten bis abends warten für den Fall von Feuergefahr. Sonntag abend fuhren
wir nach Rücksprache mit dem Landrat fort. Wir nahmen noch 3 alte Leute mit nach
Brieg."
------------------------- xxx Dies zur Ergänzung xxx ---------------------------
Ich schließe diesen Teil meines Berichts, der die Vertreibung aus der Heimat
beschreibt, mit einem Gedicht, das uns allen den Ernst jener Tage vergegenwärtigt
und zugleich uns auf den rechten Trost hinweist:
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