Schon am 16. Januar zogen vereinzelt Bauernfahrzeuge
aus dem Generalgouvernement und der früheren Provinz Posen durch Namslau. Diese
Einzeltrecks verstärkten sich in den nächsten drei Tagen. Über das Kampfgeschehen
herrschte zwischen dem 16. und 18. Januar bei allen verantwortlichen Stellen weitgehende
Unklarheit. Am Morgen des 19. Januar wurde dann das Landratsamt verständigt, daß
die russischen Truppen bis Wielun (70 km entfernt) vorgedrungen waren. Um der bedrohlichen
Lage gerecht zu werden, wurden gegen 9.00 Uhr vom Landratsamt alle verfügbaren
Lkw und Pkw auf 11.30 Uhr zum Abtransport der schwangeren Frauen und der Schwerkranken
beordert. Dieser Anordnung folgten nur sehr wenige Fahrzeugbesitzer.
Eine erneute Aufforderung brachte dann gegen 15.30 Uhr eine größere Anzahl
von Fahrzeugen zusammen, die unter der Leitung von Kreisbaumeister Sternitzke und Feuerwehrführer
Jakob im Laufe des Nachmittags ca. 40 Personen nach Brieg und Ohlau transportierten.
Gegen 11.00 Uhr wurde aller verfügbare Treibstoff beschlagnahmt und zwischen Wehrmacht
und zivilen Dienststellen aufgeteilt. Trotz der ständig wachsenden Bedrohung wurde
die Bevölkerung gegen 13.30 Uhr von Kreisleiter Fischer durch Lautsprecher auf
dem Ring zum Bleiben aufgefordert. Erst als drei russische Panzer gegen 15.00 Uhr im
Raum Glausche-Hennersdorf auftauchten, wurde der Räumungsbefehl für die Bevölkerung
aller Ortschaften des Kreises gegeben. Zwischen 16.00 Uhr und Mitternacht begannen
die Trecks in Richtung Oder abzufahren. Teilweise handelten die Bürgermeister
selbständig. Der zur Verfügung stehende Volkssturm besetzte den Stadtrand
von Namslau, brauchte aber nicht in Abwehraktionen einzutreten.
Da sich der Räumungsplan der NSV als undurchführbar erwies, wurde durch zahlreiche
Telefongespräche der Kreisverwaltung mit den Breslauer Dienststellen die Gestellung
von 5 Eisenbahnzügen erreicht, um die städtische Bevölkerung von Namslau
abzutransportieren. Der erste Zug traf gegen 20.30 Uhr, von Kattowitz kommend, auf
dem Bahnhof Namslau ein. Es war ein schwerer Abschied von der Heimat, wobei nur ein
Teil der Abfahrenden die ganze Schwere der Stunde übersah.
In jedem der überfüllten Züge konnten ca. 1500 Personen mit viel Handgepäck
und vor allem Bettzeug Platz finden. Der letzte Zug mit Zivilbevölkerung verließ
am 20. Januar gegen 7.45 Uhr den Namslauer Bahnhof. Die Züge wurden nach der Stadt
Landeshut im Riesengebirge geleitet und trafen dort nach einer Fahrzeit von über10
Stunden ein. Die Namslauer wurden auf die Stadt und den Kreis verteilt, z.T. wurden
sie in Kirchen untergebracht. Das Reservelazarett "Krüppelheim" in Namslau
mit 450 Insassen wurde im Laufe des 19. Januar nachmittags nach Bad Landeck verlegt.
Mit Beginn der Räumung wurden die leitenden Beamten der Kreisverwaltung, der Polizeikreisführer
mit seinem Stab und der Kreisbauernführer im Landratsamt in der Telefonzentrale
zusammengezogen. Im Laufe der Nacht wurde bekannt, daß in den Ortschaften Altstadt,
Kaulwitz und Schmograu noch vereinzelt ganze Familien hilflos sitzen geblieben waren,
vornehmlich infolge Krankheit von Familienangehörigen. Sie wurden von der Polizei
mit Sonderfahrten aus den teilweise brennenden Ortschaften abgeholt und in den letzten
Zug gebracht, der auf dem Bahnhof Namslau stand.
Inzwischen wurde ein Plan zum Abtransport der wertvollsten Lebensmittel und des Viehs
aufgestellt. Mit Hilfe des Divisionsstabes aus Oels gelang es, die im Kreis lagernde
Butter teilweise und auch größere Mengen Zucker abzutransportieren. Vom
Vieh konnte nur die Herde in Seydlitzruh nach Richtung Ohlau abgetrieben werden. Das
war bei 18 bis 20 Grad Kälte ein schwieriges Unternehmen; über das Schicksal
der Herde ist nichts bekannt geworden. Am Abend machte sich schon bemerkbar, daß
das angebundene Vieh in den Ställen der verlassenen Gehöfte nach Wartung
verlangte.
Vom Russen war bekannt, daß er am 20. Januar abends vor Reichthal eingetroffen
war und Konstadt O/S erreicht hatte. Die Telefonverbindungen nach Kreuzburg und Oels
waren nachmittags schon unterbrochen; sie bestanden nur noch nach Breslau und Oppeln.
Gegen 22.00 Uhr meldete der Kreispolizeiführer auf dem Kreishaus, daß die
Russen bereits auf dem Ring seien. Mit zwei Angehörigen der Kreisverwaltung und
zwei Soldaten aus dem Stabe des Kampfkommandanten, der im Braustübel seine Befehlsstelleaufgeschlagen
hatte, pirschte sich der Landrat auf den menschenleeren Ring vor. Es erwies sich als
notwendig, eine Ortsverteidigung in Böhmwitz mit Richtung Giesdorf und am Westausgang
der Stadt gegen Obischau zu organisieren. Dazu wurden Teile der Ersatz- und Ausbildungsbataillone
Schweidnitz und Glatz und das Volkssturmbataillon eingesetzt.
Die nächsten Stunden verliefen ruhig, bis am 21. Januar 1945 gegen 4.00 Uhr der
Kreispolizeiführer erneut das Anrücken der Russen meldete. Der Volkssturm
war nicht sicher, ob er sich gegen russische Panzer durchsetzen könnte. Die Truppe
in Böhmwitz wurde verstärkt und hielt bis zum Morgengrauen aus. Neben dem
Stadtpark gingen vier Geschütze in Stellung, um Angriffe der Russen von Norden
her abzuwehren. Ohne Kampfhandlungen ging die Nacht zu Ende; von Norden war zeitweise
Geschützdonner zu hören, und es sickerte die Nachricht durch, daß russische
Panzer in Hennersdorf und Glausche am Sonnabend vormittag in die abrückenden Trecks
gestoßen seien, wobei Verluste in der Zivilbevölkerung entstanden wären.
Dabei wurden am Bahnhof Glausche auch zwei russische Panzer durch mutige Soldaten abgeschossen.
Der Sonntagmorgen begann mit der Abfahrt des letzten Eisenbahnzuges (gegen 7.00 Uhr)
vom Bahnhof Namslau in Richtung Oppeln und mit dem Aufbrechen der Lebensmittelgeschäfte
am Ring, 'um durchziehende Truppen zu versorgen. Die Werkküche der DAF wurde in
Gang gebracht, um Verwundete zu speisen.
Der Kampflärm aus Richtung Reichthal wurde stärker, die Verteidiger von Reichthal
wurden zwischen 11.00 und 13.00 Uhr durch deutsche Tieffliegerangriffe unterstützt.
Die Stadt Namslau und alle Dörfer waren fast menschenleer, nur einige alte Leute
waren in den Ortschaften zurückgeblieben, weil sie die kommende Gefahr unterschätzten.
Viele sind nach den Berichten aus den Jahren 1946 bis 1950 erschlagen worden.
Ein deutscher Panzerangriff, der von Richtung Glausche auf Reichthal schon früh
gestartet werden sollte, verzögerte sich bis gegen 12.00 Uhr, weil der Treibstoff
erst von Oels herangeschafft werden mußte. Er hatte nur den Erfolg, daß
sich ein Teil der deutschen Besatzung aus Reichthal absetzen konnte. Diese erreichten
gegen 15.00 Uhr die Stadt Namslau. Im Osten drang der Russe gegen 10.00 Uhr in Noldau
ein. Der Volkssturm leistete Widerstand in Grambschütz, das gegen 14.00 Uhr in
russischen Besitz geriet. Von dort aus erhielt die Kreisstadt zwischen 13.00 und 14.00
Uhr den ersten Beschuß mit weittragenden russischen Panzergeschützen. Die
Einschläge lagen bei der Hohen Brücke und in der Gegend der Landwirtschaftsbedarfs-Gesellschaft,
später am Kino und an der alt-luth. Kirche.
Das letzte Telefongespräch aus Namslau führte der Landrat mit der Regierung
in Breslau. Von dort wurde ihm mitgeteilt, daß man in Breslau Sonntagsdienst
habe und daß der Regierungspräsident unerreichbar sei. Der engste Stab der
Kreisverwaltung, der in der Telefonzentrale bis gegen 13.00 Uhr gearbeitet hatte, verließ
über den Stadtwald und Windisch-Marchwitz das Kreisgebiet. Der stellvertretende
Bürgermeister von Namslau wurde von den Anstrengungen der letzten Tage völlig
erschöpft im Rathaus aufgefunden. Nachdem er noch einmal durch das Rathaus gegangen
war und mit dem Landrat Sicherungsmaßnahmen getroffen hatte, verließ er
bei grimmiger Kälte gegen 15.00 Uhr allein auf dem Fahrrad die Stadt.
Der Artilleriebeschuß verstärkte sich zwischen 15.00 und 16.00 Uhr ständig.
Die noch fahrbereiten deutschen Panzer durchstreiften die menschenleere Stadt bis nach
Böhmwitz. Ein Telefongespräch des Kampfkommandanten und des Landrats mit
der Divisionsbefehlsstelle ergab, daß die Russen von Groß-Wartenberg auf
Bernstadt und
93 von Noldau auf Schwirz vorrückten. Damit blieb nur noch die Straße nach
Ohlau frei. Die letzten Zivilisten und die Truppe erhielten den Befehl, sich auf Ohlau
abzusetzen bzw. eine Beobachtungsstellung am Rande des Stadtwaldes zu beziehen. Gärtner
St. erhielt den Befehl, die K.V.G. zu sprengen. Er führte den Auftrag gegen 19.00
Uhr durch. Da auch die Südausgänge der Stadt unter Granatfeuer lagen und
die Truppe sich langsam kämpfend zurückzog, verließ der Landrat mit
dem Fahrer Mühlbach und dem Sohn des Betriebsleiters Moritz von der K.V.G. gegen
17.00 Uhr die Stadt Namslau und eilte dann der Kreisbevölkerung nach, die sich
auf dem Treck zwischen Ohlau und Landeshut befand.
Noch nördlich der Oder im Kreis Ohlau waren lange Trecks der Namslauer zu finden,
die in der Nacht vom 21. zum 22. Januar beschleunigt über die Oderbrücken
zogen. Der Volkssturm beobachtete dann am Montag, dem 22. Januar, zwischen 7.00 und
8.00 Uhr vormittags vom Stadtwald aus, wie sich die ersten Russen aus der Stadt vortasteten.
Die letzten Angehörigen des Volkssturms verließen den Kreis in Richtung
Ohlau und berichteten darüber wenige Tage später in Landeshut.
Damit endet der Abschnitt des Verlassens der engeren schlesischen Heimat durch die
Namslauer Kreisbevölkerung
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