Mit Anmerkungen bzw. Ergänzungen (kursiv) von Herrn Norbert
Müller, Kaulwitz/Görlitz und Peter Graf Henckel Donnersmarck, Grambschütz
(Unterstreichungen, Fettdruck).
Frau Günther hat diesen Bericht 2005 geschrieben. Von Herrn Müller hörte
ich davon, rief Frau Günther an und nach wenigen Tagen war der Text in meinen
Händen. 1/11 PHD
Rechts der Oder, in einer weiten, fast ebenen Landschaft im Kreise Namslau gelegen.
Nahe der 1918 gezogenen polnischen Grenze, dem "Reichthaler Ländchen".
Kaulwitz - das sind Getreidelfelder, Kartoffel- und Rübenäcker, Wiesen mit
Störchen, Lerchen, Schwalben, Spatzen und anderen Vögeln! Etwa 1 km entfernt
der Fluss "Weide", der bei Breslau in die Oder mündet. Im Abstand von
etwa 3-4 km Wassermühlen, die aber nicht mehr in Betrieb waren. An der Bunke-Mühle
traf sich die Dorfjugend zum Baden.
Die Bunke-Mühle (im Meßtischblatt: Kaulwitzer Mühle) lag sws zwischen
Kaulwitz und Obischau, dort wo heute der Einlauf in den neuen' See bei Michalice
/ Michelsdorf ist. Das Haus und der Stall sind verschwunden. Die Mühle gehörte
zum Gut, Herr Bunke hatte sie gepachtet. Von der Schule über die Lindenallee waren
es 10 Minuten zu Fuß zum Baden.
Kaulwitz - ein Dorf mit ungefähr 800 (1939 795) Einwohnern. 2 Fleischer, 1 Bäcker,
1 Schmied, 1 Tischler, 2 Läden mit Kolonialwaren, 1 Schuster, 1 Schneider/in,
2 Gasthäuser und 1 Zahnarzt, 1 Fahrradhändler (Onkel und Tante von dem
Fernsehstar Thomas Gottschalk; dazu eine kleine Landwirtschaft), 1 Maschinenhändler,
1 Post mit Namen Gottschalk (Großeltern von Thomas; sein Vater Hans G. war
Rechtsanwalt in Breslau. Die Mutter stammte aus Oppeln. Kennen gelernt hatten sich
Thomas Eltern erst im 'Westen' und dann geheiratet). Einige Bauern, mehrere Stellenbesitzer,
Häusler und Arbeiter.
Das Gut des Grafen Henckel von Donnersmarck hatte eigene Werkstätten, dazu 1 Schäferei,
1 Schweinemast, 1 Brennerei und eigene Angestellte und Arbeiter. Durch die Grenznähe
bedingt standen im Dorf 3 Zollhäuser, in denen die Zollbeamten wohnten. Kaulwitz
- das waren aber auch zwei Kirchen, zwei Schulen, zwei Friedhöfe, zwei Pfarrer
und Lehrer, jeweils katholisch und evangelisch. Katholisch waren etwa ¾ der
Einwohner, evangelisch die Minderheit. Zur evangelischen Kirchgemeinde gehörten
noch die Orte Obischau, Glausche, Schmograu, Belmsdorf und Buchelsdorf.
Das Leben auf dem Dorf verlief ruhig, einfach und meist gut nachbarlich. Neuigkeiten
erfuhr man durch die Zeitungen. 1933 kam Hitler an die Macht. Wer schon ein Radio hatte,
konnte hören, wie bei den Parteitagen lange Reden gehalten und diese bejubelt
wurden. In der Schule wurde neben dem üblichem Unterricht "Dienst" eingeführt.
Die "Jungmädel" sangen völkische Lieder und die Jungs im "Jungvolk"
übten marschieren u.a. Manche trugen dabei Uniform. Das Dorf wurde politisch organisiert.
Neben dem Bürgermeister gab es den Ortsbauernführer, das Winterhilfswerk,
die Frauenschaft, BDM, HJ, SA und andere Organisationen. Wer ein Amt innehatte trat
dort ein - oft stand ein "Muss" dahinter. Man glaubte einen Aufschwung zu
spüren. Arbeitsdienst und Wehrmacht holten die arbeitslosen, jungen Männer
von den Straßen, besonders in den Städten.
Es gab aber auch Ereignisse, über die man nicht so offen sprach. - da war ein
junger Mann aus einem Nachbardorf, der, als er nachts mit einem Pferdewagen nach Hause
führ, tödlich verunglückte, drei junge Bauernsöhne aus Kaulwitz
sollen ihn verprügelt haben - hieß es. Eifersucht, Politik, persönlicher
Streit? Wer weiß. Die drei wurden verhaftet (der Tote war NSDAP-Mitglied und
SA Mann). Zwei kamen nach langer Haft nach Hause zurück, ernste Männer, die
nicht über diese Zeit sprachen. Einer kam nie wieder! Hinter vorgehaltener Hand
munkelte man von Lager und KZ.
Auch in unserer kleinen evangelischen Kirchgemeinde kam es zur Spaltung. Der alte Pfarerr
war pensioniert, der neue junge, hielt sich zur "Bekennenden Kirche" unter
Pfarrer Niemöller und wurde verhaftet, der nächste war "Deutscher Christ".
Die Gemeindemitglieder im Zwiespalt. Einige gingen wie gewohnt in die Kirche. Die Anderen
trafen sich abwechselnd in den Familien Neugebauer, Reitzig, Hermann und Günther
zur Andacht; zum Gottesdienst fuhr man nach Namslau zu Pastor Röchling. Das blieb
bis zu unserer Flucht so.
Internet: Die Deutschen Christen (DC) waren eine rassistische, antisemitische und
am Führerprinzip orientierte Strömung im deutschen Protestantismus, die diesen
von 1932 bis 1945 an die Ideologie des Nationalsozialismus angleichen wollte. Sie wurden
1932 gegründet und gewannen seit Juni 1933 die Leitung einiger Landeskirchen in
der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK). Mit ihrer Gleichschaltungs-politik und dem
Versuch, durch die Übernahme des Arierparagraphen in die Kirchenverfassung Christen
jüdischer Herkunft auszuschließen, lösten sie den Kirchenkampf mit
anderen evangelischen Christen aus. Diese gründeten daraufhin 1934 die Bekennende
Kirche, die die Deutschen Christen als Häretiker betrachtete und aus der Kirchengemeinde
ausschloss.
So vergingen die Jahre. Deutschland rüstete auf und wurde eine Macht, holt das
Sudetenland und Österreich "Heim ins Reich". Im Sommer 1939 sollten
große Manöver in Schlesien stattfinden. Mitte August marschierte eine Kompanie
ins Dorf und wurde verteilt. Die Feldküche, Sanitäts- und andere Fahrzeuge
standen in unserem großen Obstgarten. Die Schreibstube war beim Bürgermeister.
Unser Vater hatte in der Scheune Gänge abgeteilt und Stroh aufgeschüttet,
ein gutes Nachtlager für die Soldaten. Es waren junge Männer aus Bayern,
die nicht an den Ernst der Lage dachten.
Am letzten Augusttag rückten sie ab - Richtung Grenze. Bis in die Nacht dieses
Tages zogen Wehr-machtskolonnen an uns vorbei. Geschütze, Fahrzeuge und dawischen
immer wieder Infanterie zu Fuß. Wir stellten uns mit Eimern voll Wasser und Obst
vor unseren Hof auf und bei kleinen Pausen trank mancher einen Becher Wasser, ließ
die Feldflasche neu füllen oder steckte ein paar Äpfel in die Taschen. Dabei
wurde ein paar Worte gewechselt: "wie weit noch zur Grenze?" oder "denkt
an uns früh um 5.00". Langsam wurde es ruhiger, die Zeit verging. 4.00 Uhr,
5.00 Uhr - nichts. Der neblige Morgen klärte sich auf, Flugzeuge zogen über
uns weg, dann gegen 9.00 Uhr Geschützdonner, schon etwas weiter weg. Wir wussten,
der Krieg hatte begonnen - Mobilmachung. Männer wurden eingezogen, das Namslauer
Krankenhaus wurde Lazarett. Dann die erste Todesnachricht. Der Bruder von Baumeister
Michalik war gefallen.
Nach dem Polen-Feldzug eine kurze, ruhige Zeit. Die Grenze zu Polen fiel weg, Reichthal
war wieder deutsch. Wir wissen, wie es weiterging. Die Westmächte erklärten
Deutschland den Krieg , später Russland auch. Nach dem Bombenangriff im Rheinland,
auf Berlin, Hamburg und anderen Orten kamen Frauen und Kinder von dort zu uns und wurden
gut aufgenommen. Schlesien galt ja als sichere Zuflucht. Bei uns war der 10 jährige
Manfred Woitas aus Breslau, ein entfernter Verwandter, dessen Vater gefallen war.
Die Jahre der siegreichen Vormärsche waren vorbei. Die schlimmen Nachrichten,
Todes- und Vermisstenanzeigen kommen immer häufiger, es gab nur wenige Familien
die verschont blieben. Andere traf es hart. So verloren die Familien Hojinski drei
Söhne, Beyer zwei, Müller zwei, Skorsetz zwei, Anna Günther zwei (alle
weiß ich nicht mehr). Oft war es auch der einzige Sohn, wie bei uns, unser Bruder
Erich. Er wurde als vermisst im Mittelabschnitt in Russland gemeldet (1943) und bis
jetzt (2005) konnte kein Suchdienst herausfinden, was mit ihm geschehen ist. Ebenso
ist es mit meinem Cousin Heinrich, - Herbert liegt in Finnland begraben.
Zu den Wehrmachtsberichten wurden immer siegreiche Kesselschlachten, Frontverkürzungen
und Rückzugsgefechte gemeldet, der Krieg näherte sich Deutschland. 1944 bereitete
man sich an der Ostgrenze darauf vor. Das "Unternehmen Bertold" zwang unzählige
Frauen und nicht wehrpflichtige Männer zum "Schanzen", d.h. tiefe Panzergräben
entlang der Ostgrenze ausheben, die den Feind aufhalten sollten. 1945 begann mit schlechten
Nachrichten. Eine neue Großoffensive drängte die Front zurück (die
Ardennenoffensive im Westen). Frauen aus den Bombengebieten fuhren zurück. Erste
Überlegungen was noch auf uns zukommen könnte, wurden durch Parteiinformationen
verdrängt, neue Wunderwaffen versprochen. Leises Grollen in der Ferne und Blitze
am Nachthimmel zeigten die Nähe der Front.
Mitte Januar verstärkten sich diese Anzeichen schnell. Unser Pflegling Manfred
wurde von seiner Mutter nach Breslau geholt (was aus dieser Familie geworden ist, wissen
wir nicht). Meine Schwester Charlotte, die in Wigandsthal / Isergebirge im Landdienst
war, wurde heimgeschickt um ihre Sachen zu holen. Maßnahmen die uns zu denken
gaben. Ich steckte ihr noch zwei Adressen zu (Nürnberg und Glauchau, Kreis Zwickau,
Sachsen), die später sehr hilfreich waren.
Niemand wusste so recht, was in einem Ernstfall zu tun sei. Wir packten ein paar Sachen
zusammen. Es war strengster Winter und neben der Sorge um uns selbst, bangten wir um
das Vieh, um Haus und Hof. Unser Vatel als Stellmacher half in diesen Tagen vielen
Frauen die schweren Ackerwagen herzurichten. Am 19.1. trugen wir noch Futter und Heu
in die Ställe, gossen die Krippen voll Wasser und schütteten Weizen in die
Geflügelställe. Mehr konnten wir nicht vorsorgen. Höchste Zeit nun,
an uns zu denken. Im Nachbarort Glausche (nö, 3 km Luftlinie) waren die
Russen durchgebrochen, es gab die ersten Toten.
Wir zogen uns warm an, luden die gepackten Betten und Sachen bei Nachbarn und Verwandten
auf den Wagen, denn mit unseren Zugkühen konnten wir im Winter nicht auf die Straße.
Nachbar Rogoschik hatte mehrere Pferde und ließ einen Wagen für Alte, Kranke
und Häusler herrichten, den unser Vatel führte. Einige alleinstehende Frauen
wurden von Soldatenautos mitgenommen. Am Dominium brannten die Baracken mit Wehrmachtsgut.
Alle Arbeiter und Angestellte des Gutes hatten sich gemeinsam auf den Weg in Richtung
Bayern, der Heimat der Gräfin (Marie Sophie HvD, Grambschütz) gemacht.
Das Wehrmachtsgut lagerte auf dem alten Sportplatz (dessen Fläche gehörte
zum Gut) an der Lindenallee, der alten Straße nach Namslau (auch heute heißt
sie so, auf polnisch). Die Fläche war voll von Baracken, Zelten für medizinische
Dienste/Wehrmachtsgut. Alles wurde am 18.1. (Donnerstag) in Brand gesetzt, das sah
man weithin, auch von Namslau aus. Der neue Sportplatz lag damals in Richtung Schedlitzer-Mühle
(nördlich von Michelsdorf), hinter den Gutshäusern.
Norbert Müller: beim Aufbruch lief einer vom Dorf, der nahe beim Gutshof wohnte,
dort hin und holte einen Gummiwagen (das Gut hatte 15 davon) und zwei noch vorhandene
Pferde, um alte Leute vom Dorf noch aufzuladen. Bald nach dem Dorfende, Richtung Namslau,
hatte dieser einen Platten, der Mann ging zurück und holte einen neuen Wagen.
In dieser Nacht des 19. Januar (Freitag) war das Gut unter der Führung der Sekretärin
Fräulein Piskau, schon weg, auch Salesche/Waldbruch unter Herrn Inspektor Werdin.
Beide hatten sich nicht dem Grambschütz/Reichener Treck (Dr. Grothe) angeschlossen.
Dem Kreis Namslau war der Kreis Landeshut als Standquartier zugewiesen (man glaubte
ja in zwei bis drei Wochen wieder zurück zu kommen). Das Dorf Kaulwitz kam ins
Dorf Röhrsdorf bei Landeshut, die Grambschützer und Reichener lagen in Grüssau.
Am Montag den 12. Februar zog das Gut Kaulwitz und Salesche durch Grüssau. Da
Grambschütz und Reichen aber erst am 14. weiterziehen konnten, war eine Vereinigung
der Trecks nicht möglich. Aber Dr. Grothe erreichte es noch, dass sich die Güter
Kaulwitz und Salesche zusammenschlossen.
In der Dunkelheit (Freitag, 19.1. um 16.15 Uhr, vom Sportplatz Kaulwitz)
fuhren wir los. Ein Wagen nach dem anderen schloss sich an, nur wenige blieben
noch zurück. Die Hofhunde liefen mit, jaulten und bellten. Ein langer trauriger
Zug bewegte sich durch Namslau nach Windisch-Marchwitz / Smarchowice Slaskie.
Dort war der erste Halt. Pferde wurden gefüttert und getränkt, Kinder weinten,
Alte waren müde und verstört. Die Öfen waren noch warm, in den Ställen
brüllte das Vieh; das Dorf musste kurz vorher verlassen worden sein. In den Morgenstunden
ging es weiter in Richtung Ohlau / Olawa. Immer wieder Halt und Stau
auf den Straßen. Menschen zu Fuß mit Taschen, Rucksäcken, Koffern,
Schlitten, Handwagen, Pferdetrecks und Wehrmachtsfahrzeuge, alles durcheinander.
Die Parole hieß: So schnell wie möglich über die Oder. Die Oderbrücken
sollten gesprengt werden.
Langsam kamen wir voran. Am späten Abend endlich die Brücke bei Ohlau.
Ein Aufatmen als das andere Ufer erreicht war, wir fühlten uns gerettet. Bleiben
konnten wir hier nicht, immer neue Flüchtlingsströme drängten nach,
Dörfer und Straßen waren überfüllt. Aber ab jetzt wurde unsere
Flucht ein wenig organisierter. In fast jedem Ort gab es eine "Treckleitstelle",
die das nächste Tagesziel vorgab, Häuser und Ställe zum Übernachten
zuwies, auch mal in Gasthöfen oder Schulen etwas kochen ließ, damit wir
etwas Warmes in den Magen kriegten. Die Nächte verbrachten wir unterschiedlich.
Die Männer (nur uk = unabkömmlich gestellte und ältere, die wehrfähigen'
waren an der Front) meist bei den Pferden im Stall, Frauen und Kinder wurden Familien
im Dorf zugewiesen. Muttel und ich waren glücklich, wenn wir unseren Bettensack
in einer warmen Stube oder gar auf einem Sofa auspacken konnten. Sich ordentlich waschen
oder Wäsche wechseln konnten wir selten.
Der Winter hielt unvermindert kalt an, mit Schnee und auch mal mit Sonne. Als in der
Ferne der 'Zobten', ein Lieblingsberg der Schlesier, auftauchte, sah keiner wie weiß
verschneit er in der Sonne glänzte. Die Augen hatten keine Zeit für Naturschönheiten,
sie mussten auf die Straße achten.
Als Ziel und Aufenthalt war uns der Kreis Landeshut/ Riesengebirge genannt. Es wurde
uns bange, denn wir wussten schon jetzt, dass unsere Wagen für das Gebirge völlig
ungeeignet waren. Wir kamen aus dem Flachland und hatten keine Bremsen. Jetzt mussten
die zu Fuß gehenden Frauen helfen. Mit langen dicken Knüppeln oder Baumästen,
die zwischen die Speichen der Hinterräder geschoben wurden, bremsten sie den Lauf
der Räder und so bewältigten wir manchen Berg ohne Unfall. Als der Wagen
von Weinert doch einmal umkippte, hatten wir allen Grund zur Dankbarkeit, dass dem
kleinen Hans, der im Kinderwagen darauf verstaut war, nichts passiert ist.
Über Städte wie Schweidnitz / Swidnica, Waldenburg /
Walbrzych erreichten wir Landeshut / Kamienna Gora und wurden
auf die umliegenden Dörfer verteilt, wir nach Röhrsdorf / Redziny. Das kleine
Haus hatte kaum Platz für die eigene Familie, nun kamen wir noch dazu. Wir bekamen
kleine Zuteilungen auf Lebensmittelkarten. Futter für die Pferde war kaum zu beschaffen
und die Vorräte gingen langsam zu Ende. Es war eine Verschnaufpause für Mensch
und Vieh.
Norbert Müller: Nach Landeshut war auch die Namslauer Sparkasse gelangt, sie
hatte noch Geld dabei, das der Bankdirektor Johannes Przybiylla auszahlte.
Wir dachten an unsere Lottel (Charlotte, Schwester) und ich entschloss mich
sie aufzusuchen und Nachricht von uns zu geben. In Etappen mit dem Zug nach (Bad) Flinsberg
/ Swieradow - (Bad) Wigandsthal / Podiedena. Die Bauernleute Hoffmann
nahmen mich freulich auf und wir beide waren glücklich über das Wiedersehen.
Nach 2-3 Tagen hörten Hoffmanns im Radio, dass der Kreis Landeshut geräumt
wird. Sofort fuhr ich zurück, aber der Treck war nicht mehr da. Sie sind nach
Liebau / Lubawka übers Gebirge nach Trautenau / Trutnov
ins Sudetenland geschickt worden. Sehr niedergeschlagen fuhr ich mit dem Zug
nach Trautenau, stellte mich an die Straße nach Liebau und wartete. Nach Stunden
sah ich sie kommen, traf glücklich Eltern, Verwandte und Freunde, und fühlte
mich geborgen.
Wir waren jetzt im "Sudetenland". Die Landschaft wandelte sich, wurde lieblicher
und wärmer, die Tage länger. Nach einer Übernachtung am Berg "Bösig"
/ Velky Bezdez (nahe dem gleichnamigen Ort, nahe Doksy / Nordböhmen), musste
die Familie Ponitka dort bleiben, die Pferde waren krank. Unsere Ziele wurden immer
weiter westlich in Richtung Bayern gelegt. Das war sicher auch ein Grund weshalb
die Kriegsgefangenen Franzosen die Wagen der Bauersfrauen so gutwillig lenkten, es
ging ja Ihrer Heimat entgegen. Die Gefangenen Russen und Polen hatten sich meist gleich
in Kaulwitz entfernt, verständlich, ihre Heimat war ja nicht weit.
Es wurde Februar, Dresden soll furchtbar zerstört worden sein. Wir zogen
dem Elbtal, dem Frühling entgegen. Wieder waren es die überanstrengten
Pferde, die zur Teilung des Trecks zwangen. In dem kleinen
Dorf Mirschowitz / Mirejovice bei Leitmeritz / Litomerice
(Leitmeritz, in der Mitte zwischen Dresden und Prag gelegen, am Zusammenfluss von Elbe
und Eger) mussten die Familien Rogoschik, Matschulla, Weinert, Piontek, Müller,
Scholz, Neugebauer und wir, Paul Günther, zurückbleiben und die anderen
ziehen lassen, in Richtung Bayern; auch unsere Verwandten Emma und Anna Günther
mit Familien (die aber, s.u., in Herrenhut/Schwan wieder auftauchen).
Norbert Müller: die größere Gruppe zieht Richtung Bayern weiter,
wird von den Tschechen ausgeplündert; die kleinere landet dann in der späteren
DDR; auch wollte eine Gruppe mit 18-20 Gespannen wieder zurück. Bei der kleineren
Gruppe die Richtung Görlitz zog, war dann ein oberschlesischer Treck dabei. Tschechen
wollten sie ausplündern, die Oberschlesier aber wandten sich an die Russen und
bestachen sie mit 1000 Stück Zigaretten (sie hatten sich aus einer Zigarettenfabrik
versorgt). Die Russen haben dann gegen die Tschechen geholfen und uns bei Zittau über
die Grenze abgeschoben.
Dieses kleine Dorf (Mirschowitz) war mit uns völlig überlastet. Im
Gasthaussaal im Massenquartier lagen viele Familien. Müllers und wir wurden einer
Frau Nowak zugeteilt, die mit Schwiegermutter und Sohn (5 Jahre) hier wohnte. In die
leere, große Stube wurde Stroh gelegt, darauf unsere Betten, ein Tisch, zwei
Stühle - das war's dann. Herr und Frau Müller, Tante Cilchen und der 13-jährige
Norbert auf einer Seite, meine Eltern und ich auf der anderen. Am Tag wurde das Stroh
zusammen geschoben, damit etwas Platz blieb. Gekocht und gegessen wurde in der großen
Wohnküche bei Nowaks. Ein sehr primitives, armseliges Hausen, nicht Wohnen.
Die Männer fanden Arbeit in Leitmeritz bei der Wehrmacht mit Transportarbeiten,
erhielten Futter und Lebensmittelmarken. Ich durfte an der Nähmaschine Kleidung
ausbessern. Ich ließ mich über das Arbeitsamt vermitteln und ging in eine
Wäscherei, erhielt ein paar Mark Lohn und auch Lebensmittelmarken. Der April mit
Ostern (Ostersonntag war der 1. April 1945) war vorbei, in den Obstplantagen
blühten die Aprikosenbäume, das Elbtal zeigte sich von seiner schönen
Seite. Am 1. Mai noch ein Aufmarsch der SS in der Stadt, in den nächsten
Tagen Gerüchte: Hiltler ist tot !
Aber der Krieg ging weiter. In allen Straßen flüchtende Menschen, Soldaten
und auch Häftlinge aus dem Lager, geplünderte Geschäfte, weggeworfene
Wehrmachtskleidung - Chaos! Am 8. Mai Waffenstillstand, aber am 9. noch Bomben auf
Leitmeritz, was nun? Russen kamen in die Häuser, suchten nach Essbarem, Waffen,
Schnaps und Frauen. Bis hierher hatte ich das Fahrrad meines Bruders geschoben, hier
wurde es mir weggenommen. Ich lag ständig auf der Lauer. Mal auf dem Bretterdachboden,
mal unter den Betten, auf die sich Frau Müller setzte und dabei die Binden von
ihren offenen Beinen wickelte oder ich sprang nachts aus dem Fenster und lief in die
nahen Obstgärten. Wenn morgens Norbert Müller und Josel Weinart laut erzählend
und pfeifend durch die Obstbaumreihen gingen, wusste ich, dass ich mich melden konnte,
die Luft war rein.
Voller Angst und Sorge ging der Mai dahin und die Gerüchte, dass alle Deutschen
- Einwohner und Flüchtlinge - aus der Tschechei vertrieben werden, verstärkten
sich. Es war ja Frieden, wir wollten heim. Die Männer berieten über den Weg
und legten fest: nicht noch mal über das Riesengebirge, sondern über Zittau
- Görlitz nach Hause. In zwei Tagesetappen erreichten wir Lückendorf
in Deutschland (an der Grenze zu Tschechien im Landkreis Görlitz).
Ein gutes Gefühl.
Noch vor Zittau, in Eichgraben (5 km südl. von Zittau/Sachsen), ein Russenlager
am Weg, das uns die Pferde ausspannte. Nun war die Not groß. Laut heulend, jammernd
und händeringend kämpften sich die älteren Frauen zum Kommandanten durch
und erreichten, dass die eigenen oder wenigstens ein paar andere Pferde wieder eingespannt
werden durften. Schnaps, Zigaretten und ein paar polnische Worte haben da wohl auch
geholfen. Schnell weiter durch Zittau in Richtung Görlitz. Wir waren müde,
suchten ein Nachtlagen und fanden es in Schlegel (1/3 Weg nach Görlitz) beim
Bauer Hartmann. Ein großer Hof, ausgeplündert, leere Ställe, also Platz
für Menschen und Pferde und im Keller Kartoffeln.
Ein paar Männer wollten von hier die Lage an der Grenze (nach Polen) erkunden,
denn man sagte, dass die Neiße-Brücke gesprengt sei. Wir wussten, dass Herrnhut
hier in der Nähe lag (15 km nw von Schlegel). Die jüngste Tochter von Neugebauer,
Rosel, hatte dorthin geheiratet. Also machten sich die Geschwister auf den Weg nach
Herrnhut und brachten die Nachricht mit, dass Herrnhut zerstört war, aber im Ortsteil
"Schwan" die anderen Kaulwitzer im Massenquartier liegen. Über die Neiße
(die neue Grenze zu Polen) konnten wir nicht, aber wir wollten wenigstens mit den anderen
Dorfbewohnern zusammen sein. Wir zogen über Burkersdorf, Neundorf, Rennersdorf
nach Herrnhut. Die Sonne schien, grüne Felder und im Tal langgestreckte Dörfer,
ein friedliches Bild. Ein ehemaliger Futtermeister des Remonteamtes (Remonte = die
regelmäßige Auffrischung der berittenen Truppen durch junge Pferde) traf
uns, fragte nach woher und wohin und war entsetzt! Herrnhut sei ausgebrannt, von Russen
besetzt, die uns restlos ausplündern würden und Schwan, nur ein kleiner Ortsteil,
sei voller Flüchtlinge. Er meinte im nahen Berthelsdorf ständen große
leere Ställe, die wir benutzen könnten. Es war ein Rat den wir befolgten
und der gut und richtig war. Die Pferde hatten Ställe, die Wagen waren untergestellt
und wir Frauen stiegen durch eine Luke auf den Heuboden und fanden Ruhe, denn im Wald
und im Dorf lagen noch viel Russen.
Wir waren auf dem ehemaligen Gut des Grafen von Zinzendorf`angekommen, der auf seinem
Grund und Boden die "Böhmischen Brüder" siedeln und Herrnhut gründen
ließ.
Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, 1700-1760, gehört zu den bekanntesten
und originellsten Persönlichkeiten des Pietismus im 18. Jahrhundert. Auf seinem
Gut Berthelsdorf in der Oberlausitz nahm er 1722 Glaubensflüchtlinge aus Mähren
auf, Nachkommen der alten böhmisch-mährischen Brüder-Unität, die
im habsburgischen Reich ständigen Verfolgungen ausgesetzt waren. Sie gründeten
in Zinzendorfs Herrschaftsbereich die Siedlung Herrnhut, die regen Zuzug aus Böhmen
und Mähren, aber auch aus Deutschland hatte. Unter der Leitung Zinzendorfs fanden
sich hier überzeugte Christen aus verschiedenen Konfessionen zu einer Lebens-
und Glaubensgemeinschaft zusammen. So entstand die "Herrnhuter Brüdergemeine",
die viele Traditionen der alten Brüder-Unität bewahrte.
Mutti und ich suchten Ruppersdorf und den Ortsteil Schwan, fanden dort viele Kaulwitzer.
Tante Emma mit ihren 5 Kindern, Tante Anna und meine liebe Erna Reitzigs, die ihren
alten Vater (Stellenbesitzer) hatten über die Grenze tragen müssen;
die Familie Nowak, Herrmann, Marichen Wieloch, alle waren da.
Nach den vorangegangenen Strapazen verstarben dort der Reitzig Opa und das Kind von
Georg Herrmann. Auf dem Ruppersdorfer Friedhof ruhen nun ein ganz alter und ein ganz
junger Kaulwitzer. Wir waren jetzt in der Oberlausitz, einem dicht besiedeltem Land
mit viel Textilindustrie, kleinen Häusern der Weber und Arbeiter, nur wenig Landwirtschaft.
Keine Bleibe für das ganze Dorf. Klar war uns nur, dass wir nicht mehr nach Kaulwitz
zurück konnten.
Die Siegermächte hatten Deutschland unter sich in Besatzungszonen aufgeteilt und
die großen Gebiete östlich von Oder und der Lausitzer Neiße dem Staat
Polen zugesprochen.
Krankheiten stellten sich ein, wir waren bedrückt und niedergeschlagen, wenn wir
an die Zukunft dachten. Die Jungs, auch meine Cousins, lungerten im Ort herum und bettelten,
um etwas Essen. Einmal hatten sie Glück, es wurde gerade ein Schwein geschlachtet
und sie bekamen jeder eine Scheibe gekochtes Fleisch. Was andere hungrig herunter geschlungen
hätten, trugen sie sorgsam heim und bettelten die Mutter: "Wir haben doch
Kartoffeln, koch uns mal Klöße." Klößel und ein kleines
Stückchen Fleisch, welch ein Festessen für die ganze Familie !
Erste Auflösungserscheinungen der Dorfgemeinschaft machten sich bemerkbar. Jeder
versuchte sich, seine Familie und wer hatte, seine Pferde unterzubringen. Rogoschik,
Müller und Scholz fanden etwas in der Umgegend. Weinert, Matschulla und Piontek
siedelten in Oderwitz. Eine große Gruppe mit Anna und Erna Günther, Emma
Günther mit den Kindern, Nowak, Herrmann, Goszik, Grzeschniok, Marie Wieloch und
andere wurden nach Sachsen-Anhalt verladen und wurden in Biere (ö von Braunschweig)
heimisch. Reitzig, Walter, Skorsetz und andere wurden nach Rohrsheim/Harz geschickt,
andere in die Gegend von Hoyerswerda.
Mein Vater sagte: " Wenn wir hier Arbeit und ein Dach über dem Kopf finde,
gehe ich nicht mehr weiter." Muttel und ich stimmten zu; wo wäre es wohl
besser als hier? Er konnte in der Gutstellmacherei arbeiten und ich auf dem Feld, Mattei
versuchte einen kleinen Haushalt aufzubauen, was nicht leicht war, es fehlten selbst
die einfachsten Dinge. Wichtig war, dass wir uns polizeilich anmelden konnten, wieder
eine feste Anschrift hatten, die wir bei den Suchdiensten melden konnten. Augen und
Ohren waren immer gespannt, ob sie etwas Bekanntes entdeckten.
Als ich zum Zahnarzt musste, sah ich zufällig auf einer Liste den Namen "Günther,
Richard". Sofort fragte ich nach Geburtsdatum und Wohnort. Am nächsten Wochenende
lief ich nach Neundorf und fand dort wirklich meinen Cousin Richard in einer Gast-
und Landwirtschaft arbeitend. Ich konnte berichten, wo er seine Mutter, Schwester,
und seine junge Frau Gretel finden würde. Endlich mal ein freudiges Ereignis.
Wochen danach wieder eine große Freude! Meine Schwester meldete sich aus der
Gegend von Weimar in Thüringen. Im Herbst kam sie dann zu und nach Berthelsdorf.
Langsam besserte sich unsere Lage, wir lebten uns ein, fanden Wohnung, Arbeit und Freunde.
Wie die meisten Familien hier, lebten wir einfach, bescheiden und zufrieden. Bei meinen
Eltern blieb immer die Hoffnung, dass sich unser Erich doch noch melden würde
und es blieb die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat still im Herzen bis zu ihrem
Tode.
Wenn ich mein Leben rückblickend betrachte, kann ich es in 3 große Abschnitte
teilen.
1. Kindheit und Jugend Kaulwitz 1923 -1945
2. Erwachsenen und Arbeitsleben Berthelsdorf 1945 -1989
3. Alter - und Rentnerleben Görlitz 1990
Dankbar und zufrieden beende ich den Bericht. Ich danke allen die uns geholfen haben
mit Nahrung, Kleidung, Unterkunft und guten Worten, ich danke Gott für Schutz
und Beistand in guten und besonders in den schweren Tagen.
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