Treckbericht aus dem Kreise Namslau/Schlesien


Die Flucht der Dörfer Grambschütz und Reichen

(später auch Kaulwitz und Salesche)
vom 19. Januar bis zum 31. März 1945,

verfasst von Herrn Dr. Franz Grothe zwischen den Jahren 1945 bis 1950.



Dr. Grothe war der bevollmächtigte Güterdirektor der Betriebe Grambschütz, Reichen und Kaulwitz, die den Grambschützer Grafen Henckel von Donnersmarck gehörten.
Dieser Bericht lag bei den Unterlagen seines Sohnes Christian, *1934 ( Krischan hieß er in Grambschütz). Zusammen mit seinem, in diesen Dingen inzwischen kundigen Sohn, wurde der Bericht dann sehr viel später eingetippt, vervielfältigt (5-10 Exemplare) und an einige Personen verschickt. Darunter meine Schwester Theresia Baronin Gießenbeck, von der ich ihn vor langer Zeit erhielt. Mir war nicht bekannt, dass es keine Veröffentlichung gegeben hatte und habe ihn deshalb auch abliegen lassen. Krischan konnte mir jetzt noch einige ‚abrundende' Hinweise geben. PHD 8/09

1. Aus der Heimat nach Grüssau

    Am 12. Januar eröffnete der Russe seine große Winteroffensive. Montag, den 15. Januar meldete der Wehrmachtsbericht unter anderem den Vorstoß der Russen von Baranow aus über den Nida-Fluß am Südrand des Lysa-Gora-Gebirges. Von da ab mußten wir Schlesier mit einer Flucht rechnen, und einzelnen gelang es auch noch, Sachen mit der Bahn wegzuschicken. Mittwoch räumte unser Nachbarkreis Kreuzburg. Gegen Mittag erschien inGrambschütz bei Grothes Mutter Forchmann (die Schwiegermutter der Schwester von Frau Grothe, sie war aus Niederschlesien gekommen), die erstaunlicher Weise nach Klein-Deutschen (Kreis Kreuzburg) auf Besuch gefahren war und nun hoffte, von hier aus besser nach Hause zu kommen. Donnerstag, den 18. Januar wurde Tschenstochau aufgegeben. In der Frühe dieses Tages gelang es Gräfin Henckel noch mit sämtlichen Kindern (acht Kinder mit der Bahn aus Grambschützt) abzureisen. Vormittags fand in Namslau eine Versammlung aller Prominenten statt, in der der Fall der Räumung erörtert wurde. Ausdrücklich wurde aber immer wieder darauf hingewiesen, daß zur Beunruhigung kein Anlaß sei und daß auch vorläufig nicht gepackt werden dürfe, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Eingehend wurde über die Spinnstoffsammlung gesprochen Freitag, den 19. Januar hörten wir, daß russische Panzer bei Hennersdorf Kreis Namslau, also in nächster Nähe, aufgetaucht seien. Eine Bestätigung war nicht zu erhalten, da das Telefon bei dem letzten Fliegerangriff gestört worden war. Die Spannung bei den Menschen stieg von Stunde zu Stunde! Abends um 20 Uhr 30 brachte ein Kurier aus Namslau die Aufforderung, den Treck in den Kreis Reichenbach, der den Kreis Namslau aufnehmen sollte, anzutreten. Bei einer Besprechung am Nachmittag dieses Tages mit den Bürgermeistern und Ortsbauernführern hatte Dr.Grothe angeordnet, daß sofort die Verteilung der Einwohner auf die Treckwagen vorzunehmen sei und ebenso die Flugzettel verteilt werden mußten, in denen Anweisungen über das mitzunehmende Gepäck enthalten waren (genügend Lebensmittel und Bekleidung, auch Betten, aber im Ganzen nur soviel, wie jeder zur Not selbst tragen konnte!).
    Als der Befehl eingetroffen war, alarmierte Dr.Grothe sofort Grambschütz und Reichen und setzte den Abmarsch für Sonnabend (20.1.) früh fest. Der Volkssturm sollte zurückbleiben. Um Klarheit zu schaffen, ob Dr.Grothe nunmehr führen oder auch zurückbleiben sollte, fuhr er sofort von Reichen weiter nach Namslau. Hier herrschte ein ziemliches Durcheinander und allseitig große Aufregung. Man verlangte dringend nach Gespannen vom Lande, weil die Eisenbahn die Namslauer nicht alle abtransportieren konnte. Im übrigen war nur zu erfahren, daß grundsätzlich die Ortsgruppenleiter (das war Dr. Grothe seit 1941) die Trecks führen sollten. Die Panzersperren waren besetzt, und es war schwierig, wieder aus der Stadt heraus zu kommen. Die Spannung wurde erhöht durch ein großes Feuer, das in Richtung Kaulwitz am Horizont zu sehen war. Später erfuhren wir, daß die Sanitätskompanie dort den großen Sanitätspark in Brand gesteckt hatte. Allerdings ohne den Versuch zu machen, die wenigen feindlichen Panzer aufzuhalten.
    In Anbetracht der unerhört gespannten Lage befahl Dr.Grothe, daß sich der Treck bereits um 1 Uhr nachts auf dem Gutshof in Grambschütz sammeln sollte. Inzwischen war es 21 Uhr geworden und höchste Zeit die Wagen fertig zu machen. Besonders schwierig war es in Reichen, weil Herr Inspektor Thamm eingezogen war und die polnischen Kutscher in der dunklen Nacht den Anordnungen der Frauen nur unwillig oder garnicht Folge leisteten. Aber auch in Grambschütz setzten sich die meisten Männer wenig für die Allgemeinheit ein, sondern dachten nur an ihren eigenen Kram. Bürgermeister Filor war völlig kopflos. Als sich gegen 1 Uhr nachts der Treck auf dem Gutshofe sammelte, stellte es sich heraus, daß noch viele Dorfbewohner kein Unterkommen auf den Wagen gefunden hatten, insbesondere auch weil die Bauern nur wenige Familien aufgenommen hatten. Auf ein Bauerngespann kamen nämlich höchstens 12 Menschen, während auf ein Gutsgespann 25-30 Menschen entfielen (Damals beherbergte das Dorf Grambschütz über 200 Evakuierte aller Art - Kölner, Hamburger, Breslauer, Kroatendeutsche und Ungarn-). Es mußte also immer wieder umgepackt werden, bis alle ein Unterkommen gefunden hatten. Die fehlenden Pferdegespanne wurden durch Ochsen ersetzt, die nachtrecken mußten.
     Um 2 Uhr setzte sich der Treck in Bewegung entsprechend dem Marschbefehl über Alt-Grambschütz, Simmelwitz, Groß-Marchwitz etc. In den verschneiten Hohlwegen traten die ersten Stockungen auf, weil schlecht bespannte oder überlastete Wagen stecken blieben und die Nachfolgenden oft erst auf das energische Einschreiten des Treckführers hin Vorspanndienste leisteten. Ab Groß-Marchwitz hatten wir zwar Chaussee, aber diese war spiegelglatt. Kleine Ruhepausen sollten eine Sammlung des Trecks ermöglichen, der sich durch mancherlei Störungen immer wieder auf mehrere km auseinanderzog. Über 70 Fahrzeuge mit fast 1000 Menschen zu einer geordneten Marschkolonne zu formieren, war auch keine Kleinigkeit. Es war daher nicht verwunderlich, daß die kräftige Stimme von Dr.Grothe bald nur als Flüstern zu hören war. Übrigens mußten bereits in Simmelwitz zum ersten Male Ochsen requiriert werden, da ein Pferd nicht ziehen konnte.
    Am frühen Nachmittag wurde das erste Marschziel Prietzen (Kreis Oels) erreicht, das schon geräumt war wie alle anderen Orte, die wir bereits durchfahren hatten. Herr Rodestock (Reinhold R.), auch zur Abfahrt gerüstet, übergab uns sein Gut zur freundlichen Benutzung. Ein vorzüglicher Hirschbraten mit Sahnensauce und eingemachte Früchte wurden mit Genuß verspeist, wenn auch das Drum und Dran nicht gerade zünftig war. Der einzige warme Raum war nämlich die große Küche im Keller. An diesem ersten Marschtage hatte übrigens die Familie Grothe den ersten Verlust zu verbuchen: die goldbraune Dackelhündin Mäusele war auf dem Marsch von ihrer Feindin, der grauen Schäferhündin Lotte, (Lampas) arg zerbissen worden. Da eine sachgemäße Pflege unter den derzeitigen Umständen nicht möglich war, gab ihr Herr Rodestock auf Bitten von Frau Grothe den Gnadenschuß. Dieser Verlust hat uns allen sehr weh getan. In wenigen Tagen verloren sich übrigens alle mitgenommenen Hunde restlos (auch die vom Schloss), sie sind alle offenbar nach Hause zurückgekehrt. Die Menschen kamen in den Bauernhäusern mehr oder weniger gut unter. Das Schießen in der Ferne ließ aber leider einen ruhigen Schlaf nicht zu. Obwohl Stallwachen eingeteilt waren, hatten Früh 2 Pferde sehr schwere Schlagwunden; glücklicherweise ergaben 2 eingefangene herrenlose Pferde vollwertigen Ersatz.
    Am Sonntag (21.1.) früh ging es in Richtung Ohlau weiter. Die Straßen waren voller Trecks, und das Vorwärtskommen sowie vor allem das Zusammenhalten unserer großen Marschkolonne waren nicht ganz einfach. Am Rande des Waldes von Peisterwitz traf ein großer Stop ein, da die Straße bis Ohlau restlos verstopft war. Hier trafen wir Willy Ocklitz (Landwirtschaftsrat, Namslau) als Volkssturmmann, der in seinem Auto eine hochschwangere Frau von unserem Treck mit zur Entbindung ins nächste Krankenhaus nahm. Unter anderen Bekannten trafen wir im Walde von Peisterwitz auch Frau Schneider, Eckersdorf (Hermann Sch. war der Pächter von Gut Eckersdorf), die von ihrem Treck abgesprengt war und sich nunmehr uns anschloß (zwei Wagen mit vier Pferden)
.Dabei die Pastorenfamilie Herbert Hartnik aus Hönigern; er war eingezogen. Frau Schneider vom Rittergut hatte ihnen angeboten mit ihr zu trecken.
    Als nach stundenlangem Warten der Abend hereinbrach entschloß sich Dr.Grothe, das naheliegende und leere Dorf Steindorf mit dem Treck zu beziehen, um Erfrierungen in der eisigen Nacht auf der Landstraße zu vermeiden. Die meisten Wagen hatten nämlich kein Verdeck und die Menschen litten schon sehr unter der scharfen Kälte. Zufälligerweise hatte der Treck den ärmlichsten Teil des Dorfes bezogen. Die Wohnungen waren verkommen, schmutzig und zum Teil schlecht heizbar. Trotzdem suchte sich alles so gut es ging einzurichten, und bald wurde überall gekocht und gebraten. Hier und da wurden Hühner und Gänse als Verpflegungsreserve hergerichtet, auch Kühe gemolken und die Zigarrenvorräte aus einer verlassenen Zigarrenfabrik aufgefüllt. Viel zum Schlafen kam unter diesen Umständen niemand. Um 2 Uhr nachts stand der Treck wieder abmarschbereit. Der aus Ohlau zurückkehrende Kurier meldete jedoch, daß die Straßen immer noch verstopft wären, und daß der Treck statt über Ohlau über das 35 km entfernte Breslau marschieren sollte. Unter diesen Umständen ging es erneut in die Quartiere und der Abmarsch erfolgte erst um 6 Uhr Früh.
    Montag, den 22. Januar ging es bei eisiger Kälte (wahrscheinlich unter 25 Grad minus) durch Minken, Markstädt, Fünfteichen in Richtung Breslau. Alle Dörfer, die wir bisher durchzogen hatten, waren geräumt, nur hin und wieder sah man einen Polen oder sonstigen Ausländer umherschleichen. Überall hörte man die in den Ställen verbliebenen Kühe brüllen, weil sie weder gemolken noch gefüttert wurden. Und dazu die Straßen voll flüchtender deutscher Menschen - ein unvergeßliches Bild. Die Spannung stieg dauernd, da seitlich immer wieder Artilleriefeuer zu hören war.
    Als vorgeschickte Radfahrer meldeten, daß auch die Breslauer Oderbrücken verstopft seien, entschloß sich Dr.Grothe kurzerhand mit dem Treck über das Odereis bei Großbrück zu gehen, nachdem durch Späher festgestellt war, daß die hier vorhandene Furt ein Übersetzen zuließ. Erstmalig stießen wir hier auf einige deutsche Soldaten, die einen Brückenkopf bildeten und auch bereits das Eis zur Sprengung vorbereitet hatten. Die Bemerkung eines Soldaten dürfte am treffendsten die Stimmung kennzeichnen: "Wo wollt Ihr noch hin? Macht bloß, daß Ihr wegkommt, hier ist dicke Luft!".

Christian Grothe, der den Treck mitgemacht hat, berichtet:
    Im Raum Ohlau, als wir verzweifelt nach einem Übergang über die Oder suchten, trafen wir auf eine deutsche Soldaten-Kompanie und hier war dabei der (natürlich eingezogene, weil wehrfähige) Pastor Hartnik aus dem Raum Eckersdorf, dessen Frau bei unserem Treck war. Er empfahl uns bei Großbrück (zwischen Ohlau und Breslau) über die Oder zu gehen, dort sei eine Furt. Dieser Übergang über das Eis sei zwar schon vermint, aber dazwischen war ein geschlängelter Weg ausgesteckt, bezeichnet mit Zweigen und Büschen, von denen man keinen Schritt abweichen durfte. Hier zog die Wehrmacht noch ihre Geschütze über den Fluss.
    Wagen auf Wagen wurde vom Uferrand mit vielen menschlichen Hilfskräften auf das Eis heruntergelassen, rollte dann zwischen den Minen über das Eis und mußte schließlich mit vielen Pferdekräften auf das jenseitige Ufer hochgezogen werden. Da der (eine) Eckersdorfer Wagen,ein 7 ½ Tonner, besonders schwer war, wurde er wie verschiedene andere Wagen auf Anraten von Dr.Grothe (!!) zum Teil abgeladen. Man bekam zum Glück Handschlitten von den Flüchtlingswagen geborgt, sodaß die Sachen und die kleinen Kinder hinübergezogen werden konnten. Dies alles geschah in enormer Hast, da der Abend hereinbrach. Es war bereits völlig dunkel, als dies schwierige Werk beendet war. Auf einer Straße, die rechts und links von hohen Pappeln umsäumt war, nahm der Treck wieder Aufstellung und zog dann mit der Hälfte der Wagen weiter nach Rohrau, während der Rest auf einem Vorwerk von Kraftborn/Tschechnitz, Kr. Breslau, in Grebelwitz und in Saulwitz unterkam.
    Das Gut Rohrau gehörte Herrn Scholz-Babisch, der wegen Mittäterschaft am Attentat des 20.Juli erschossen worden war. Die Räume des Schlosses waren vom Finanzpräsidium versiegelt, und der Inspektor glaubte, sie nicht öffnen zu dürfen. Kurz entschlossen ließ sie Dr.Grothe gewaltsam öffnen, da über 300 halberfrorene Menschen hier unterkommen mußten. Die Zimmer waren mit auserlesenen Möbeln, Teppichen etc. ausgestattet und zeigten eine hohe Wohnkultur. Da das Vorkommando bereits die Zentralheizung in Gang gebracht hatte, verbreitete sich bald eine wohlige Wärme, und alles richtete sich recht und schlecht teils in den Zimmern, teils im Treppenhaus, mit oder ohne Stroh, zur Nachtruhe ein. Hier wurde uns zum ersten Male klar, was ein größeres Massenquartier bedeutet. Dauernd herrschte eine gewisse Unruhe durch die Menschen, die mit einer Kerze oder Taschenlampe bewaffnet über die Leiber der Liegenden kletternd, dem Ausgang zustrebten (!!), durch das Schreien der kleinen Kinder und durch das Schnarchen der Schlafenden.
    Dienstag, den 23. Januar war Ruhetag. Eine gute Gemeinschaftsverpflegung, zu der alle aus den mitgenommenen Vorräten beisteuerten, sorgte für zufriedene Gesichter. Dr.Grothe fuhr nach Ohlau zum Kreisleiter, um die Erlaubnis zu erhalten, in Richtung Jauer, Görlitz weiterzufahren, da er die Berge auf dem vorgeschriebenen Marschwege wegen des schlechten Beschlages der Pferde und der bremsenlosen Wagen fürchtete. Während der Verhandlungen schoß der Russe bereits mit Artillerie nach Ohlau hinein, insbesondere auch auf den in der Nähe liegenden Bahnhof, wo dicke Qualmwolken den Erfolg seines Beschusses anzeigten. Leider durfte der Marschbefehl nicht abgeändert werden. Zu dem Appell am Nachmittag dieses Tages, bei dem Dr.Grothe wie üblich allen Treckgenossen einen Lagebericht gab, erschien auch der Kreisleiter und beglückwünschte uns zu der gelungenen Oderüberschreitung !!!
Um die Schwierigkeiten, den großen Treck befriedigend unterzubringen, aus der Welt zu schaffen, sollte das Vorkommende einen Tag Vorsprung bekommen und der Treck weiter rasten, zumal die Quartiere warm waren und es reichlich zu Essen gab. Doch die meisten Menschen waren in ziemlicher Spannung, da man immer wieder Artillerie schießen hörte. Um 1 Uhr nachts meldete sich der Bürgermeister von Rohrau bei Dr.Grothe und teilte mit, daß seine Ortschaft bereits früh restlos geräumt werden müsse, er riet uns, noch vorher abzumarschieren. Im Handumdrehen war das ganze Schloß mobil, fing an zu packen und den Abmarsch vorzubereiten. Um 6 Uhr sollte der Treck fertig stehen. Schwierig war die Benachrichtigung der in den anderen Ortschaften liegenden Treckteile, doch dank der einsatzfreudigen Radfahrer klappte alles aufs Beste. Um alles reisefertig zu machen und etwas zu frühstücken, mußten die Frauen, insbesondere die mit mehrern oder kleinen Kindern, mindestens 2 Stunden vor Abmarsch mit der Arbeit beginnen. Da die Kinder sehr oft übernächtigt und verzagt waren, ging es nicht ohne Gebrüll ab.
    Pünktlich um 6 Uhr setzten wir uns am Mittwoch, den 24. Januar vollzählig in Marsch. Da der Raureif die Landschaft märchenhaft verzaubert hatte, merkten wir zunächst die schneidende Kälte kaum. Die meisten Menschen mußten zur Schonung der Pferde laufen. Nur kleinere Kinder, alte Leute über 70 Jahre und kranke Leute durften aufsitzen. Im übrigen zwang auch die Kälte dazu, sich Bewegung zu macher, denn der schneidende Wind ließ trotz aller Vermummungen Erfrierungen befürchten.
    Diese Fahrt von Rohrau in Richtung Wangern war besonders eindrucksvoll. Zweimal bogen wir rechtwinklig ab, so daß man den endlosen Flüchtlingszug in der weiten Ebene vor Augen hatte. Wäre die Wehmut nicht in unseren Herzen gewesen, man hätte dem ganzen Erleben viel mehr Schönes abgewinnen können. Es waren viele eindrucksvolle Bilder auf dieser Flüchtlingsreise in den klaren Januartagen. Ungeachtet all des vielen Leides, entfaltete die Natur immer von Neuem ihre Pracht und Schönheit.
    Da die vorgesehenen Übernachtungsorte Ottwitz und Wädchen belegt waren, mußten wir in Bohrau und Petrikau ins Quartier gehen. Auch hier packten die Einwohner bereits. Trotz des bescheidenen Strohlagers schlief fast alles bestens, weil der Marsch undd die Luft redlich müde gemacht hatten. Von hier ging es am Donnerstag, den 25.Januar über Groß Tinz, Jordansmühl, Zobten nach Klein-Biehlau.
In Abänderung des Treckbefehls wurden wir in Jordansmühl plötzlich statt in den Kreis Reichenbach nach dem Kreise Landeshut umgeleitet. Da das Vorkommando aber im Kreise Reichenbach Quartiere gemacht hatte, stand der Treck zunächst ohne Unterkunft auf der Straße, als wir erschöpft bei Dunkelheit in Klein-Biehlau eintrafen. Endlose Verhandlungen des Treckführers mit den Ortsbehörden waren praktisch ohne Erfolg. Endlich faßte sich der Schafmeister von Klein-Biehlau, den Dr.Grothe von den Auktionen her kannte, ein Herz und nahm seine wertvolle Stammherde trotz der eisigen Winternacht ins Freie, um den riesigen massiven Schafstall für uns freizumachen. Auf den Mist kam eine leichte Strohdecke, und in kurzer Zeit lagen wir, wie die Hammel gepfercht, in mehr oder weniger festem Schlafe. Erstaunlich war, daß sich sowohl Jung wie Alt in der ungewohnten Umgebung schnell zurechtfand. Unsere .Kinder lagen alle warm zugedeckt nebeneinander, schliefen sofort und es erschien wie eine Selbstverständlichkeit, daß sich zu ihren Füßen, neben der Futterkrippe, die alte Dame Forchmann im Nu ihr Lager richtete und auch bald fest schlief. In diesem Schafstall hatte der Treck den ersten Toten zu beklagen; die Mutter der Schweinemeisterin Marie Buchta, die bereits beim Abmarsch in Reichen sehr krank war, schlief hier sanft für immer ein. Auf dem Hof der Schäferei waren unsere Gespanne eng aufgefahren und die Pferde mußten zum Teil ohne Decke am Wagen stehen bleiben, eine harte Belastungsprobe.
    Das Reiseziel am Freitag, den 26. Januar war Weizenroda und Niedergiersdorf. Auch hier bedurfte es langwieriger Verhandlungen mit dem Bürgermeister, um für Mensch und Tier Unterkunft zu bekommen. Wenn wir diesmal wieder nur mit Massenquartieren fürlieb nehmen mußten, so wurde es doch als besonders angenehm empfunden, daß zum Beispiel in einigen Räumen der Orte Hanke und Niedergiersdorf fließendes Wasser vorhanden war und dadurch eine gründliche Reinigung ermöglicht wurde. Diese tat not, denn wir waren alle mordsmäßig dreckig. Der Geburtstag Dr.Grothes (26.1.1893) wurde mit einer gutgebratenen Gans und einer Flasche Rotwein würdig gefeiert, nachdem vorher das ausgegebene Massenfutter Grund gelegt hatte. Wolfgang -Grothes Breslauer Pflegesohn- goß übrigens seine Brühsuppe auf die seidene Daunendecke, und versuchte sie von dort wieder in aller Ruhe aufzulöffeln, während sich Jochen S., der 2. Breslauer Pflegesohn, durch Bespucken von Bübchen sehr unbeliebt machte !! Nachts weinte dann Charlottchen Hartnik ununterbrochen, sodaß Menschen "mit Nerven" wenig Ruhe fanden. Frau Hartnik (Frau des oben genannten Pastors H.) hatte den festen Vorsatz, sich von Schweidnitz aus am nächsten Tage nach Seidenberg (dort gab es einen Eisenbahnanschluss in Richtung Görlitz usw.) mit der Bahn abzusetzen. Sie hatte 2 kranke Kinder und glaubte in der Heimat ihrer Mutter besser mit allen Schwierigkeiten fertig zu werden. Doch letzten Endes blieb sie beim Treck, da eine gesicherte Weiterfahrt mit der Bahn nicht mehr gewährleistet war.
    Am Sonnabend, den 27.Januar ging es weiter über Schweidnitz nach Freiburg. ln Schweidnitz trafen wir Frau Haselbach aus Namslau, die mit ihrem kranken Mann und 3 Kindern ohne Gespann nur das nötigste Handgepäck hatte retten können. Erich Kynast (Getreidekaufmann, Namslau) half hier übrigens den Verkehr zu regeln. Durch Schweidnitz hindurchzukommen, war infolge der Anstauung endloser Flüchtlingszüge, nicht so einfach. Da wir bevorzugt abgefertigt wurden (!), zogen wir bereits nach einer halben Stunde Richtung Freiburg auf unserer Straße weiter. Hier wurde Gisela -Frau Schneiders Breslauer Pflegekind- von einem Bekannten auf dem Motorrad zu ihren Eltern geholt. Das Gepäck mußte sie allerdings auf dem Schneiderschen Wagen lassen!
    Trotz aller Bemühungen glückte es an diesem Tage leider nicht, eine richtige Unterkunft zu bekommen. Wiedereinmal mußte der Treck in der eisigen Nacht auf der Straße stehen bleiben, und die Menschen suchten sich in den anliegenden Häusern auf eigene Faust Quartier. Die NSV (National-sozialistische Volkswohlfahrt ; die Arbeiterwohlfahrt war schon lange verboten und die NSV drängte z.B. das Rote Kreuz, die evangelische Diakonie oder die katholische Caritas stark zurück) bemühte sich sehr, unser Los zu erleichtern, und es gelang, wenigstens allen eine warme Kartoffelsuppe mit Wursteinlage zu verabreichen. Die Mütter mit Kleinkindern waren in Privatquartieren untergekommen, und zum Schluß stand noch Familie Grothe und Frau Schneider auf der Straße. Der NSV-Leiter gab diesen 7 schließlich einen Raum mit 5 Luftschutzbetten zum Unterschlüpfen und dazu einen großen Topf Kakao, ein langentbehrter Genuß! Die Mutter Forchmann sagte sich hier von Grothes los, da sie hoffte, von Freiburg aus am leichtesten ihre Tochter in Hirschberg zu erreichen.
    Sonntag (28.1.) Früh um 7 Uhr, ging es weiter nach Alt-Reichenau. Bis dahin brauchten wir des öfteren einen Vorspann, da uns die Berge -insbesondere der Zeißberg- arg zu schaffen machten. Wir waren diesmal schon mittags um 1/2 12 Uhr in dem schönen Gebirgsdorf, das sich endlos hinzog. Es wirkte wie ein kleiner Winterkurort. Das Arbeiten der örtlichen Behörden war vorbildlich, und in kürzester Zeit war der ganze Treck im Quartier. Selbstverständlich überwog wieder das Massenlager, doch einzelne Privatquartiere konnten als feudal bezeichnet werden, speziell die von Hartnik und Schneider ! Frau Schneider traf hier 2 Eckersdorfer Gespanne und sprach mit Frau Litzba (Kutscher), Frau Schönfeld (Arbeiter) und Frau Morawa (Arbeiter, alle drei aus Eckersdorf), die auch vom Treck abgesprengt waren. Sie erzählten, daß bei ihnen Exzellenz (die Witwe Gertrud v. Garnier und Besitzerin von Eckersdorf) und Herr von Garnier (der Sohn?) seien. Sie hätten alle Strapazen bisher gut überstanden - vor allem die alte Dame. Leider war die Zeit zu knapp, um in dem langen Dorf die Garniers aufzusuchen. Hervorzuheben ist hier noch die gute Verpflegung durch die NS-Frauenschaft.
    Am Montag, den 29. Januar, verließen wir Alt-Reichenau wie üblich um 7 Uhr, um die letzten 25 km unserer Treckreise zurückzulegen. Ein rasender Schneesturm und zahlreiche Berge, die nur mit Vorspann bewältigt werden konnten, erschwerten die Fahrt sehr. Über Hartmannsdorf, Ruhbank, Landeshut kamen wir in unser Standquartier Grüssau. Da das Vorkommando wenig erreicht hatte, stieß die Unterbringung auf mancherlei Schwierigkeiten. Bei Dunkelheit war der Treck jedoch in den kleinen Bauernhäusern, die z.Teil weit auseinanderlagen, ganz gut untergekommen, und nur wenige mußten sich vorläufig mit Massenquartieren begnügen.
    Der gesamte Kreis Namslau kam im Kreise Landeshut unter. Leider ist der Kreis Landeshut besonders arm. Die Ernährung, insbesondere Beschaffung von Kartoffeln war daher schwierig. Nach einigen Tagen Ruhe mußte Dr.Grothe mit 20 Wagen nach dem Kreise Strehlen fahren, um aus den bereits geräumten Gebieten Getreide und sonstige Lebensmittel zu holen. Dieser äußerst anstrengende Treck war 6 Tage unterwegs und brachte von dem Gute Rotschloß außer 1200 Ztr. Brotgetreide für die Mühlen des Kreises Landeshut, noch 150 Ztr. Hafer und 40 Ztr. Kartoffeln mit, die bei der späteren Weiterfahrt unserem Trecke sehr zustatten kamen.
    Einige ältere Leute waren, von Schweidnitz aus, mit Lastautos nach Landeshut transportiert worden, unter anderen auch Herr Hofschulte (Inspektor von Salesche/Waldbruch), der sich dabei eine Lungenentzündung holte, die ihn im Grüssauer Schwesternheim dahinraffte. Zweimal besuchte Graf Henckel (er war in Breslau stationiert) den Treck und besprach mit Dr.Grothe eingehend die Lage. Das Wiedersehen mit Pater Petrus (Kloster Grüssau), der des öfteren in Grambschütz gewesen war, löste bei vielen große Freude aus.
    Grothes wohnten direkt an der Straße beim Fleischbeschauer Schreiber, rührend gutmütigen Leuten, in einem sehr engen, feuchten Zimmerchen ohne Betten. Ununterbrochen am Tage, und bis tief in die Nacht, zogen Trecks in beiden Richtungen auf der Landstraße, und oft nahmen die netten Quartierwirte spät abends noch viele Leute in ihrer Küche auf, wo sie wenigstens Schutz vor der Kälte fanden. Wenig erfreulich war das Auftreten der Wehrmacht, die auch in Grüssau Quartier bezog und Frauen unseres Trecks rücksichtslos auf die Straße setzte. Das geschah allerdings während Dr. Grothe auf dem Treck nach Strehlen war.
    Schneiders bewohnten eine luftige Stube, die auf dem Boden einer Scheune ausgebaut war. Der Raum war aber groß mit Koch- und Heizofen, vier Betten standen darin, vier Spinte -so war man halt ganz zufrieden. Mit eigenen Teppichen, einem Wandbehang und noch anderen persönlichen Dingen, war es bald recht wohnlich. Da der gutmütige, immer hilfsbereite Bauer Kühn für Holz und Kohle sorgte, wurde es auch gemütlich warm. Außer Frau Schneider und ihren 3 Kindern wohnten noch Martha (Eckersdorf) und Anna (? Bock, die Grambschützer Schloss-Köchin) mit in diesem Raum. Hartniks (die Pastorenfrau mit ihren zwei Kindern), die 2 saubere Räume bewohnten, hatten recht unfreundliche Wirtsleute, die ihnen die Grüssauer Zeit sehr versauerten. Sie gingen immer mit dem Gedanken um, von hier aus nach Seidenberg (s.o.) zu fahren. Der Plan war schon so weit gediehen, daß die Koffer schon fertig gepackt, auf die Abfahrt am folgenden Tag warteten, doch es kam der Befehl zum Weitertrecken und so blieben auch Hartniks beim Treck. Frau Schneider hatte hier in Grüssau übrigens auch einen Treckplan für ihre Fahrt nach Sachsen ausgearbeitet. Doch da sie keine Post von ihren Frankenberger Verwandten bekam, außerdem das Vorrücken der Russen bei Görlitz ein Durchkommen auf dieser Strecke in Frage stellte, wagte sie dieses Risiko nicht und zog wieder mit dem Treck weiter.

2. Marsch von Grüssau nach Alt-Zedlisch, Kreis Tachau.


    Die Lage an der Front hatte sich -wie bereits erwähnt- verschlechtert (Lauban) (im Februar 1945 war die Stadt Lauban, gut 20 km östlich von Görlitz, bereits von den Russen eingenommen worden, wurde aber noch einmal zurückerobert), so daß es uns nicht überraschend kam, als wir am 11. Februar 1945 bereits den Befehl zum sofortigen Abmarsch bekamen. Da aber der Beschlag der Pferde und auch die Gummiwagen nicht in Ordnung waren, mußte der Abreisetag hinausgeschoben werden und so marschierten wir erst am Mittwoch, den 14. Februar morgens um 7 Uhr bei Eis und Schnee in Grüssau ab. Der Abschied von den Quartierwirten war nicht ohne Tränen; einige Bauern unseres Trecks blieben infolge kranker Pferde in Grüssau zurück. Das Häuflein war im Ganzem nun schon kleiner geworden, da Verschiedene die weitere Reise mit der Bahn fortsetzten, zum Beispiel Frau Zoida; Fräulein Hermann (Chefsekretärin von Grambschütz, geboren in München), Frau Mücke (Gasthaus Mücke in Grambschütz; die Familie Mücke, mit Tochter Gisela, kamen als Pächter aus Bernstadt), Fräulein Paus und die Kroatendeutschen. Obwohl die allgemeine Lage auch von den Grüssauern ungünstig beurteilt wurde, war die Stimmung im Treck beim Abmarsch durchaus zufriedenstellend.
Der erste Marschtag führte uns über Schömberg nach Parschnitz. Da die Straßen durch Trautenau verstopft waren, mußte ein Ruhetag eingeschoben werden, was uns in Anbetracht der mäßigen Massenquartiere (die Menschen in der Hauptschule, die Pferde in der Ziegelei) nicht besonders erfreute. Am Donnerstag regnete es, aber ein kleiner Ausflug auf die Höhe gab wieder neuen Lebensmut ! So zogen wir Freitag, den 16. Februar weiter, über Trautenau (sehr bergige Straßen, aber sonst interessante, aufblühende Stadt) nach Arnau an der Elbe. (Polnische Legion. Quartier in der Schule mit mehrstimmigem Abendgesang, Aplona hilft gegen Verdauungsstörungen [ein erprobtes Apfelpulver bei Durchfall ], bei den Eckersdorfer Pferden tritt eine Augenentzündung mit Freßunlust auf). Bei sehr glatten und sehr steilen Straßen, ging der Weg über die Elbe ins Protektorat nach Neupacka. Infolge der Krankheit der Pferde, blieb der Eckersdorfer Wagen zurück und kam erst wesentlich später nach vielen Schwierigkeiten (Bulldog) in Neupacka an.
    Die Tschechen, die ihren Sonnabend-Abend-Bummel machten, zeigten uns ihren Haß durch hämische Bemerkungen ("das ist Groß-Deutschland !") während sie den durchziehenden Kriegsgefangenen leckere Brötchen und sonstige Erfrischungen reichten. Die Menschen wurden in der Hauptschule zusammengepfercht (Tod von Herrn Krause). (17.2., der Lehrer an der Waldschule, der Vater von Frau Lampa, der Lehrerin an der Dorfschule). Für die Pferde gab es überhaupt kein Unterkommen. Da der Weg aus Neupacka über einen langen, steilen Berg führte, und am Morgen große Glätte zu erwarten war, wurde der Treck sofort bis auf die Höhe vorgezogen, um dort auf der Landstraße etwa 3 km vom Quartier entfernt zu übernachten. Einen gewissen Ausgleich gab das Abendessen in einem Gefolgsschaftsraum, wo es vorzügliches Goulasch und Bier gab. Die Nacht war eisig und der scharfe Wind ließ weder Mensch noch Tier zur Ruhe kommen. Die an der Landstraße stehenden Häuser waren alle abgeschlossen, nur Herr Storek (Inspektor von Grambschütz) fand wie üblich ein privates Unterkommen !! Außer dem Treckführer und den Kutschern schlief auch Frau Schneider hier im Wagen, was dank der warmen Pelze und Betten und eines guten Karamellschnapses vorzüglich gelang.
(Pferdegeschirre wurden nächtens abgenommen und zusammen an einer sicheren Stelle bewacht.
Die Aussicht, dass sie sonst am Pferd durchgeschnitten und gestohlen wurden, war sehr groß. Nur mit ihrem Halfter geschirrt, blieben die Pferde am Wagen)
    Als es am nächsten Morgen (Sonntag, 18.2.) weiterging, war es eine Erlösung für Mensch und Tier. Die Eckersdorfer Pferde mußten beschlagen werden, und Frau Schneider gelang es, trotz der Sonntagsruhe, einen tschechischen Schmied mobil zu machen. Für evtl. Hilfeleistung mußte der Wagen Knopp, Grambschütz, und der Schmiedemeister Floryscak (Grambschütz) gleichfalls zurückbleiben. Da die Straßen besser wurden, kam der Treck bereits gegen Mittag in Gitschin an. Hier versagte die örtliche Treckleitung ziemlich und wollte ihre Unfähigkeit ausgleichen durch Einsperren des Treckführers Dr.Grothe! Auch in Gitschin fiel uns besonders auf, daß die tschechische Bevölkerung vom Kriegsgeschehen nicht berührt war. (Promenade eleganter Pärchen am Sonntag, wie wir es in Deutschland seit Jahren nicht mehr kannten). Der Treck wurde für die Übernachtung in mehrere Ortschaften aufgeteilt. Die örtlichen Behörden benahmen sich mustergültig, allerdings fiel das Abendessen der NSV ganz aus. Die Grambschützer Wagen (einschließlich Eckersdorf) kamen in Welisch ins Quartier (Schule und Gasthaus). Abends Turnunterricht der Kinder bei Frau Schneider.
    Am Montag, den 19. Februar ging die Reise weiters nach Nieder-Bausow. Da das Quartiermachen sehr oft schwierig war, hatte der Treckführer diese Aufgabe seit Grüssau selbst übernommen, und wurde nunmehr auch außer von Gogol (Stellmacher, Dominium Grambschütz) von Frau Schneider wirksam unterstützt, die ihr Amt zuerst per Rad ausführte, später -vor allem bei eintretendem schlechten Wetter- auf der "Spinne" (dem Einspänner Dr.Grothes) gnädig aufgenommen wurde. In Nieder-Bausow kamen die Menschen in der Schule, einem Gasthaus und im Kino recht und schlecht unter, die Pferde in Einzelquartieren. Die Tschechen zeigten hier im allgemeinen Entgegenkommen und stellten sogar Privatquartiere zur Verfügung (Waschgelegenheit bei einer tschechischen Maid, Angebot des tschechischen Ingenieurs an den Treckführer).
    Bei sonnigem Wetter und herrlicher Aussicht in das reizvolle Hügellend mit Burgen und Türmen fuhren wir nach Bakow. (Höfliche Leitstelle, herrliche Brötchen mit Wurst) und dann weiter nach Weißwasser. Leitstelle und Essenausgabe in der Fabrik am Anfang des Ortes, sehr steile Straße zum Marktplatz, wo gut gekleidete und ausgefütterte tschechische Polizisten das Auffahren des Trecks leiteten. Die Quartiere wurden stark belegt, etwa 1 1/2 qm pro Person, und trotzdem versuchten die Polizisten immer wieder während der Nacht Menschen der nachkommenden Trecks in die Massenquartiere zu pferchen. Die energischen Worte des Treuführers: "Legen Sie die Leute in die leeren Tschechenlokale ! Wenn Sie nochmal erscheinen, schieße ich Ihnen in die Knochen !", machten dem Spuk entgültig ein Ende (Dr.Grothe führte eine Pistole mit sich). Im übrigen gab es in einem Tschechenlokal vorzügliches Bier!
    Am Mittwoch, den 21. Februar ging es weiter nach Dauba. Beim Verlassen des Protektorats wechselte auch die Landschaft. Anstelle des fruchtbaren Bodens und der gepflegten wohlhabenden Dörfer traten arme Sandböden. Kiefernwälder und bescheidene deutsche Ortschaften. Lange Zeit hatten wir den Blick auf ein hoch am Berge liegendes großes Schloß (Schloss Neuperstein?, Waldstein, Kaunitz, Liechtenstein). Die Massenquartiere in Dauba unterschieden sich im übrigen in keiner Weise von denen im Protektorat, nur mußten wir uns gefallen lassen, daß uns ein deutscher Schuldirektor noch 20 nachkommende Flüchtlinge nachts ins bereits vollgepfropfte Schulzimmer steckte.
    Donnerstag, den 22. Februar ging es weiter über Wedlitz nach Polepp und Ruschewan (steile Abfahrten). In Ruschewan fanden wir rührende Aufnahme, teils in der Schule, teils privat und bekamen prima Essen. Endlich mal nicht Kartoffelsuppe! Leider endete dieser so angenehme Quartiertag mit Tränen der freundlichen Köchin, da es sich bei der Brotausgabe herausstellte, daß mehrere Brote gestohlen waren. Und Brot war äußerst knapp !
    Am nächsten Tage führte uns der Weg bei diesigem Wetter ins Elbtal nach Leitmeritz (interessante Türme am Rathaus). Über die Elbbrücke ging es auf mäßigen Wegen, die z.Teil durch riesige Eisschollen noch eingeengt waren, am linken Elbufer entlang nach Lobositz. Nach mancherlei Warten und Verhandlungen gelang es den Quartiermachern, bei der Leitstelle durchzusetzen, daß der große Treck in Lobositz blieb. Erstaunlicher Weise kamen die meisten in Privatquartieren bestens unter, während die Pferde leider die Nacht in offenen Schuppen verbringen mußtene (Baumeister Kunze, Frau Loos).
Wie üblich bei guten Quartieren, blieben einige am nächsten Morgen unter irgendwelchen Vorwänden zurück. Doch Punkt 7 Uhr rollte der Treck befehlsgemäß aus der Stadt. Der Weg führte zunächst über Trebnitz im Protektorat, nach Liebshausen im Sudetengau. Das Wetter war sehr unfreundlich, Schneeschauer und rasender Sturm, und dazu waren die Wege zum Teil sehr bergig und die Straßen aufgeweicht. Die Leitstelle hatte nur ein Interesse: "Last uns in Ruhe und macht, daß Ihr weiterkommt!" Auf nunmehr unglaublichen Wegen und durch eine eigenartige Bruchlandschaft (Dorf im Steinbruch) mußten wir weiter nach Weberschan, wo sich das übliche Spiel auf der Leitstelle (siehe oben), wiederholte. Nach 6-stündiger Verhandlung kam es wie es kommen mußte: Der Treck kam erschöpft bei Dunkelheit an, und die zugesagte Hilfe bei der Einweisung blieb aus. Ein großer Teil des Trecks kam in dem Elendsquartier eines alten Flaschenkellers unter (zumTeil in 2 Etagen wie die Hühner). Grothes, Schneiders und Grunds (Gutsköchin von Eckersdorf) lagen in einem feuchten Ausländerhaus am Bach, sehr eng und bescheiden. In der Nähe eine Mühle mit Schwanenteich und Hopfengarten.
    Sonntag Morgen, den 25. Februar zogen alle weiter, froh darüber, daß die Nacht wiedereinmal vorüber war. Vor uns marschierte mit einigen Wagen Oberinspektor Lücking aus Dammer (Fedor v. Heydebrand und der Lasa). Die nächste Leitstelle war Saaz, wo wir Ponwitz und Naumann aus dem Kreise Öls trafen, die beim Landesbauernführer Ruhetage für die erschöpften Trecks durchsetzen wollten. Herr Ponwitz hatte in seinem Auto verschiedene rare Artikel und gab für die Babys unseres Trecks einige Jäckchen und Windeln ab, für Doris Schneider ein Paar Schnürstiefelchen. Sogar eine Kostprobe Schokolade gab es - seit Kiegsausbruch nicht mehr gesehen.
    Alle Straßen waren voller Trecks, die sich in den Städten und Knotenpunkten stauten. Das schlimmste Bild boten die Pferde, die völlig abgetrieben mit struppigem Haar und hängenden Köpfen dastanden und im günstigsten Falle ein paar Körner Hafer oder etwas Heu zu fressen bekamen. Die Menschen benahmen sich sehr unterschiedlich. Bei einigen Trecks herrschte Ordnung, Kameradschaft und die Stimmung war gut, während bei anderen genau das Gegenteil der Fall war. Die Landschaft des Saazer Beckens war äußerst eigenartig, aber nicht schön. Wie an der Elbe vor Leitmeritz, gab es hier zahlreiche Hopfengärten,die in den eingebrochenen Erdfalten geschützt, angelegt waren. Der Boden selbst war sehr fruchtbar.
    Der Treck wurde aufgeteilt auf die sauberen und wohlhabenden Hopfendörfer Groß- und Kleinholletitz, Welletitz und Tronitz und kam zum größten Teil in Privatquartieren bestens unter. Es war daher nicht verwunderlich, daß am nächsten Morgen die meisten nicht weiterziehen wollten und der Treckführer zum Teil einen gewissen Druck ausüben mußte! Bei Windstärke 9 ging es am Montag, den 26. Februar 1945 auf zum Teil recht steilen Wegen über Lieboritz und Ledau nach Podersam (kleinere Massenquartiere, gutes Abendbrot im Gasthaus zur Sonne - Doppelportionen !). Am nächsten Morgen mußten leider 4 kranke Pferde zurückbleiben (Neumann und Bienek Reichen, Piessek Grambschütz). Der Weg führte über Rudik,Trahens zur Leitstelle Lubens, wo wir Passoke (? Otto, Kraftfahrer, Krakauer Straße) von der NSV-Namslau trafen. Obwohl der Ort durch Trecks stark verstopft war, gelang es, unseren Treck in kürzester Zeit durchzuschleusen. Eile war auch nötig, denn außer den bereits erledigten 18 km dieses Tages, lag etwa die gleiche Strecke nocheinmal vor uns und, was wir nicht ahnen konnten, zwei schrecklich lange und steile Berge. Wir berührten Liebkowitz, Poschau und Chiech (großes Schloß) und bezogen Quartier in Radotin, Moschiedl, Nebosedl und Zwolln. Hier waren uns einige Tage Ruhe zugesagt.
    Da unsere erschöpften Pferde ausnahmsweise reichlich Heu und Stroh bekommen konnten, nahmen wir ohne Murren die traurigen Massenquartiere in diesen armseligen Gebirgsdörfern in Kauf. Grambschütz war besonders schlecht untergekommen, weil eine Stunde vor Einrücken des Trecks bereits der aus Seydlitzruh, Kr. Namslau, die für uns vorgesehenen Quartire belegt hatte. Um die Stimmung zu halten wurde sofort unter Leitung von Frau Schneider eine Gemeinschaftsküche eingerichtet, die sich sehr gut bewährte. Selbst die angebrannte Mehlsuppe wurde im Allgemeinen günstig beurteilt ! Rührende Aufnahme bei dem Meiereiverwalter von Perglas (Ortsteil von Daßnitz). Leider verursachte seine fette Kost erhebliche Darmbeschwerden. Um die Quartierfrage zu regeln fuhr Dr.Grothe am Mittwoch nach Luditz. Am Donnerstag allgemeiner Pferdeappell, und am Abend Marschbefehl für einen Tag später.
    Einige warme Tage machten das Bild der Landschaft recht eindringlich. Während im Elbtal das Grau, im Saazer Becken das Braun vorherrschte, gab hier die rote Erde der Landschaft den Charakter. Die Wiesen zum Teil versumpft, der Acker strenger Lehm und schwer zu bearbeiten, und die das Ganze einrahmenden Kiefernwälder entsprachen der Anspruchslosigkeit der Bewohner. Freitag fiel wieder Schnee, und als wir am Sonnabend, den 3. März wie üblich um 7 Uhr abrückten, lag eine 20 cm hohe Schneedecke. Stark bergige Wege und ein schneidender Wind mit Schneesturm erschwerten den Marsch, der über Stydra nach Theusing führte. Große Freude herrschte bei 4 Grambschützer Frauen (Kopka, Stephan, Siebenhaar), die beim Einkaufen vor 8 Tagen den Treck verloren hatten. Übrigens traten diese Frauen in ihrer Freude ihre Quartiere mit Betten den Familien Grothe und Schneider ab, was dankbar angenommen wurde, denn die Massenquartiere ließen zu wünschen übrig.
    Am Sonntag Früh (4.3.) rollte der Treck pünktlich um 7 Uhr in Richtung Tepl. Als das Vorkommando sich dort auf der Leitstelle meldete, war der Herr Bürgerneister über diese Störung offenbar wenig erfreut. Wie alle anderen, hatte er nur das Intersesse, den Treck aus dem Kreise Tepl herauszubekommen und legte als Ziel Kuttenplan, Kreis Tachau fest. Da die Stadt Tepl sehr bergig war, schickte Dr. Grothe sofort einen Melder zurück, damit der Treck nicht über die Stadt Tepl, sondern über das Stift Tepl fahren sollte. Dieses Kloster ist übrigens ein interessanter Barockbau, und der Sonntagsfrieden, der von ihm ausstrahlte, beeindruckte uns ruhelose Wanderer besonders. Der direkte Weg nach Kuttenplan betrug etwa 15 km, war aber nach Angabe der Treckleitstelle verstopft (ein langer steiler Berg war vor uns fahrenden Trecks zum Verhängnis geworden).
    Das Vorkomnando fuhr also den empfohlenen "kleinen" Umweg (10 km mehr) über Prosau, Habakladrau, Abaschin, Hohndorf, Wilkowitz zur neuen Leitstelle Kuttenplan. Auch hier reichten die Berge aus, aber schlimmer noch nahm Mensch und Tier mit, der über die Höhen fegende Schneesturm. In Kuttenplan angekommen, war es dem Vorkommando sofort klar, daß der Treck niemals diesen über 40 km langen Weg durchhalten würde.
    Es gelang den Treck in Habakladrau abzufangen und auch dort ins Quartier zu bringen. Um die Quartierfrage für den Treck unbedingt sicher zu stellen, fuhr das Vorkommando zu der für Hahakladrau zuständigen Leitstelle in Marienbad und ging dann selbst in Auschowitz ins Quartier. In Marienbad selbst war nämlich für 4 Menschen und 1 Pferd kein Platz mehr. Und auch Auschowitz bot nur ein Strohlager in der Schule. Der Schneesturm hatte übrigens verschiedene vom Treck abgesprengt, so z.B. Frau Grothe, Fräulein Simon etc., die nach einem mehrstündigen ungewollten Marsch über Abaschin, Hohndorf, endlich in Habakladrau zum Treck zurückfander oder andere, die schließlich in Kuttenplan landeten. Der Weg und das Wetter setzten dem Treck auch am Montag arg zu und Menschen und Pferde kamen schließlich wieder erschöpft in den Quartieren Bruck und Gottschau an. Zum Teil gab es hier sogar Privatquartiere, ein Verdienst der rührigen Quartiermacher (Frau Schneider, Herr Gogol).
    Am Dienstag (6.3.) Morgen waren wiedermal die Straßen spiegelglatt und bergig, eine schwere Prüfung für die schlecht beschlagenen Pferde. Bei der nächsten Leitstelle in Alt-Zedlisch lehnte der Bürgermeister zunächst die Unterbringung des großen Trecks ab und gab erst nach langem Hin und Her nach. Die Quartiere für die Menschen waren daher auch äußerst primitiv, während die Pferde einigermaßen unterkamen.
    Unerwartet wurde der Weitermarsch abgeblasen, da der Raum von Pfraumberg und Vohenstrauß überfüllt war. Der Gau Bayreuth wollte im übrigern keine neuen Trecks mehr aufnehmen, und so wurde der Treck nach einigen Tagen in Standquartiere aufgeteilt. Das Gut Grambschütz einschließlich Eckersdorf blieb in Alt-Zedlisch, während das Dorf Grambschütz nach Ostrau, das Gut Reichen nach Porschau und Wosan und das Dorf Reichen nach Dianaberg umzogen. Dorf Grambschütz und Gut Reichen kamen überwiegend in leidlichen Privatquartieren unter, Dorf Reichen mußte infolge schlechter Quartiere nocheinmal umziehen, und der Hauptreck in Alt-Zedlisch blieb nach wie vor überwiegend in Massenquartieren. Nach langen Bemühungen gelang es durchzusetzten, daß die Menschen nicht am Boden essen mußten, sondern Tische und Bänke bekamen. Einige mehr oder weniger gute Privatquartiere änderten an dem Gesamtbild wenig.
    Unter der tatkräftigern Leitung von Frau Schneider wurde sofort eine Gemeinschaftsküche eingereichtet, die ein vorzügliches, wenn auch manchmal knappes Essen lieferte. (Oberkoch war wie in der Eckersdorfer Gutsküche Frau Grund !). Sofort wurde auch für Feuerung gesorgt, Holz im Walde gemacht und Kohle aus dem 80 km abliegenden Kohlenrevier geholt. Auch Gemüsegärten waren bereits geplant (Frau Handryschek, Gertrud, Gärtnerin von Grambschütz), doch das Schicksal wollte es anders. Die Spannung zwischen dem Treckführer und dem "überlebensgroßen" Herrn Bürgermeister brachte es dahin, daß unser Treck im Kreise Tachau auf die schwarze Liste kam.
    Die ersten Tage in Alt-Zedlisch hatten Kölner Evakuierte die Grothesfreundlicherweise aufgenommen. (2 Mütter mit 6 Kindern und 2 Räumen). Dank der Bemühungen des Ortsbauernführers gelang es ein nettes kleines Dachstübchen mit Aussicht auf den Pfraumberg zu bekommen. Schneiders waren hier besonders schlecht untergekommen. Ein feuchter unfreundlicher Raum bei unfreundlichen Wirtsleuten bot nur Platz für 4 Personen. Martha mit der kleinen Doris bekamen Quartier in der Küche und Werkstatt eines gutmütigen Schusterehepaares. Doris schlief hier auf einem kurzen Sofa und Martha auf dem Strohsack daneben. Hier war es allerdings so warm, daß Doris vor Juckreiz nur ganz schlecht schlafen konnte.
    In Alt-Zedlisch stellte es sich übrigens heraus,daß fast alle Kinder des Trecks und auch verschiedene Erwachsene verlaust waren. Fräulein Dornemann (Leiterin des Grambschützer Kindergartens, aus Breslau) tat ihr Möglichstes, dem entgegenzuarbeiten. Leider reisten die "lieben Tierchen" aber noch lange mit !
    Herr Thamm (Inspektor von Reichen), Herr Storek (Inspektor von Grambschütz) etc. waren eifrigst bemüht Pferd und Wagen wieder gut marschfähig zu bekommen. In Plan lagen übrigens die Güter Kaulwitz und Waldbruch, mit denen sofort Verbindung aufgenommen wurde (es war aber wohl nur nur ein kleiner Teil Kaulwitzer Trecks).
    (Westliches Tschechien/West-Böhmen/West-Sudetenland: Alt-Zedlisch/Stare Sedliste, liegt 7 km sö von Tachau/Tachov. Davon 20 km n liegt Marienbad/ Marianske Lazne, dazwischen Plana/Plana. Tepl/Tepla rund 10 km ö von Marienbad)
    Die Rasttage in Alt-Zedlisch wurden für manchen anregenden Spaziergang und Marsch ausgenützt. Wenn auch die Gegend landwirtschaftlich arm war, so hatte sie doch landschaftlich viele Reize. Auch die in Alt-Zedlisch liegende Segelfliegerschule erfreute des öfteren Jung und Alt durch ihre kühnen Darbietungen. Um die Eckersdorfer Leute zu besuchen, fuhren am Sonnabend, den 17. März Frau Schneider und Dr. Grothe nach Marienbad, wo sie von Fräulein Widule (Eckersdorf?) in Auschowitz erfuhren, daß der Treckführer Junggebauer (Eckersdorf?) in Sandau und das Dominium (Eckersdorf?) in Miltigau lagen, während der Vogt Fuchs (Richard, Dominium Eckersdorf) in Petschau bei Tepl zurückgeblieben war. In Anbetracht der ungünstigen Bahnverbindung war ein Besuch der Eckersdorfer undurchführbar. (Die Frau Walz, Mutter der Ruth verh.Holzmann, hat bei dieser Gelegenheit ihren Mann Felix in Marienbad besucht, der dort im Lazarett lag). Trotz des regnerischen Wetters verflogen die Stunden schnell, weil wir die Familie Haselbach trafen und uns viel zu erzählen hatten. Auf der Rückfahrt trafen wir außerdem Willy Ocklitz, der von Luditz kommend seine Frau in Plan besuchen wollte.
    Die Verhandlungen zwischen den Gauen Sudetengau und Bayreuth hatten inzwischen dazu geführt, daß die überbesetzten Kreise im Sudetenland, Trecks an den südlichen Teil des Gaues Bayreuth abgeben sollten. Aus dem Kreise Tachau mußten 2500 Menschen abziehen, und zu ihnen gehörte auch unser Treck.
    Obwohl die Reise bereits Montag, den 19. März weitergehen sollte, wurde der von den Familien Grothe und Schneider nach Pfraumberg geplante Ausflug mit bestem Erfolg durchgeführt. Für die Kinder war das Klettern über die verschneiten Felsen an steilem Hange ein besonderes Erlebnis und für die "Alten" nicht ohne Mühe !! Auch die Burgruine mit ihren geheimnisvollen Kellern war nicht ohne Reize. Um den Weitermarsch zu klären, fuhr am Montag, den 19. März, das Vorkommando nach Bischofteinitz voraus, wo mit dem Vertreter des Gaues Bayreuth die Marschroute und das Endquartier im Kreise Pfarrkirchen festgelegt wurden.
    Die Stimmung bei Bekanntwerden des Marschbefehls war unterschiedlich. Die meisten, insbesondere auch die in Plan liegenden Kaulwitzer und Waldbrucher, deren Gespanne der dortige Bürgermeister dringend brauchte, waren nicht erfreut und fürchteten sich vor den Strapatzen eines neuen Trecks. Die zu erwartende ungünstige Ernährungs- und Futterlage aber, gaben dem Treckführer den Ausschlag zum Weitermarsch. Wiederum blieben verschiedene in ihren Quartieren zurück (Lehrer Schreiber), zum Teil allerdings, um mit der Bahn nach Pfarrkirchen weiterzufahren.
    Im allgemeinen wurde sowohl unseren Quartierwirten wie uns der Abschied schwer und es ging nicht ohne Tränen ab.
    Eine rühmliche Ausnahme machten Frau Schneider, ihre unfreunliche Wirtin Frau Fischer und der Bürgermeister von Alt-Zedlisch. Besonders schwer wurde die Entscheidung für Frau Pastor Hartnik, die ihr gutes Quartier ungern verließ, da sie glaubte, von hier aus evtl. doch noch in die Heimat ihrer Mutter, in der Nähe des freigekämpften Lauban, reisen zu können. Doch der Schutz des Trecks war stärker als alle anderen Erwägungen. Im Übrigen war dieses Gefühl bei fast allen Treckteilnehmern sehr stark.

3. Marsch von Alt-Zedlisch nach Pfarrkirchen

    Am Donnerstag (22.3.) Früh setzte sich pünktlich zur festgesetzen Stunde der Treck wieder in Bewegung. Um die Unterbringung in den kommenden Quartieren zu erleichtern, mußte eine Auflockerung des Trecks vorgenommen werden.
Den 1. Zug unter der Leitung von Herrn Storek bildete das Gut Grambschütz (mit den Eckersdorfer
Wagen) mit etwa 17 Gespannen und 260 Menschen.
Der 2. Zug das Dorf Grambschütz, unter Herrn Gsuk (Ortsvorsteher) hatte nur 30 Personen und 8 Pferde.
Den 3. Zug bildete das Gut Reichen unter Führung von Herrn Thamm (Inspektor) mit etwa 170 Personen und 20 Pferden.
Der 4. Zug, das Dorf Reichen, unter Führung von Ackermann I (Karl, Bauerngutsbesitzer) war bereits am Montag vorausgefahren.
Den 5. Zug mit etwa 230 Personen mit 30 Pferden bildeten die Güter Kaulwitz und Waldbruch unter Führung von Fräulein Prischan (Ursula, * 1930, Gutssekretärin).
Der 3. und 5. Zug folgten dem 1. und 2. Zug mit einem Tag Abstand.

    Zunächst ging es über Haid (burgartiges Schloß der Fürsten zu Löwenstein) nach Mirschigau und Horschau und lange grüßte der vertraute Gipfel des Pfraumbergers. (Hier Telegramm für Grothes aus Hamburg erhalten, Frau Irmgard Grothe stammte aus Hamburg-Altona). Am nächsten Tag ging es über Bischofteinitz (großes Schloß des Fürsten zu Trautmannsdorf) nach Taus im Protektorat. Da wir nunmehr den Sudetengau entgültig verlassen (bis auf eine kleine Enclave vor Furth i. W.), dürfte eine kleine Charakteristik dieses Landes angebracht sein.
    Da dieser Gau wie ein schmaler Rahmen das in sich geschlossene Protektorat umschließt, ist es nicht verwunderlich, daß er sowohl in der Landschaft wie bei den Menschen gewisse Unterschiede aufweist. Die Gegend um Trautenau, die wir zuerst berührten, erinnerte an das schlesische Riesengebirge, jedoch war sie durch den Schutz der im Norden gelegenen Gebirgskette lieblicher.
    Die Menschen hier zeigten in ihrer freundlichen und aufgeschlossenen Art unverkennbar die Einwirkung von Wien, obwohl sie fest zum Großdeutschen Reich standen. Die Landschaft in der Tschechei mit ihrem fruchtbaren Boden und zahlreichen Obstgärten zeigte eine gewisse Wohlhabenheit, war uns aber doch mit ihren spitz zulaufenden kahlen Hügeln, die oft von Burgen und Schlössern gekrönt waren, fremd ist. Umso vertrauter waren uns die bewaldten Höhen um Dauba ud Ruschewan, die uns an das deutsche Mittelgebirge erinnerten. Auch hier brachten uns die Menschen viel Herzlichkeit entgegen, und wir fühlten uns ihnen verwandt.
    Um Saaz änderte sich das Landschaftsbild. Die Hopfengärten mit ihren Stangenwäldern zeigten die stark industrialisierte Landwirtschaft, und die offensichtlich wohlhabendere Bevölkerung konnte keinen rechten Kontakt mit uns bekommen. Eine rühmliche Ausnahme bildeten die Menschen der Hopfendörfer Holletitz, Welletitz und Tronitz, die allerdings von Trecks noch nicht heimgesucht worden waren.
    Im Gegensatz zum reichen Kreise Saaz wurden die Kreise Luditz und Tachau in ihrem Landschaftsbild bestimmt durch eine arme Hochebene, die viele Sumpfstellen und Kiefernwälder aufwies. Der Boden war durchwegs schwer zu bearbeiten. Die Menschen waren uns -auch wenn sie freundlich entgegenkamen- meist irgendwie fremd und ihre Einstellung zum Großdeutschen Reich erschien uns nicht unbedingt zuverlässig. Äußerungen wie z.B. "Unter der Tschechenherrschaft ist es uns sehr gut gegangen" dürften unsere Auffassung belegen. Sehr oft ließen sie uns fühlen, daß wir ihnen unerwünschte Gäste waren.
    Ehe der Treck Taus erreichte, trat ein Unglücksfall ein, der aber gut ablief. Helga Schneider stürzte beim Klettern vom Gummiwagen ab, und das Vorderrad fuhr ihr über beide Oberschenkel. Wunderbarerweise kam sie mit einer leichten Muskelquetschung davon. Die Pferde mit den Wagen kamen in die große Reithalle der Jägerkaserne, während die Menschen in einem großen dunklen Kino zusammengepfercht wurden. Taus selbst ist eine sehr saubere Stadt mit einem langgezogenen eindrucksvollen Ring (Hauptplatz/Rathausplatz, eine Bezeichnung in östlichen Gegenden), der durch die fortlaufenden Laubengänge und die schönen Hausgiebel ein besonderes Gepräge hatte. Die Verpflegung bei den Tschechen war im übrigen gut; trotzdem waren wir wenig erfreut, als wir erfuhren, daß wir einen zwangsläufigen Ruhetag einschieben mußten. Hier erreichte uns im übrigen eine Nachricht von Herrn Schneider sen., der mit seinem Treck im Kreise Cham lag und uns aufforderte, unseren ganzen Treck ebenfallss dort unterzubringen ! (Der Treckbefehl war aber für uns bindend).
    Die Gegend wurde nun sehr reizvoll, denn wir kamen nunmehr in den Böhmerwald. Wir berührten den Luftkurort Babylon mit seinen schönen Seen und dann Furth im Walde. In Tenried und Rimbach ging die Spitze des Trecks, der Rest in Untertrappendorf und Graßmannshausen ins Quartier. Die erste Aufnahme bei den Bayern war durchaus zufriedenstellend.
    Die Fahrt am Montag, den 26. März verlief bis zur nächsten Leitstelle Kötzting schnell und reibungslos, wurde aber dann für unsere Pferde noch zu einer schweren Belastungsprobe, da der vom Bürgermeisten in Kötzting empfohlene Weg über Blaibach, Sudetenstraße, Prackenbach nach Viechtach nicht nur nur 9 km länger war, als der Weg über Wettzell, sondern ebenfalls zahlreiche erhebliche Steigungen aufzuweisen hatte. Bei Dunkelheit kam der Treck völlig erschöpft in Viechtach an und mußte mit äußerst dürftigen Quartieren fürlieb nehmen. Wie die meister Kutscher, zog es Frau Schneider sogar vor, am Marktbrunnen im Wagen zu nächtigen. Die Gegend hatte eine besondere Seherswürdigkeit durch den 140 km langen Quarzpfahl, der nach Angabe des Viechtacher Prospektes die größte Bruchlinie der Erde ist. Dieser helle Quarzzug zeigt bei Viechtach besonders eigenartige Formen und ist deshalb hier zum Naturschutzgebiet erklärt worden.
    Die von dem über 35 km langen anstrengenden Marsche erschöpften Pferde brauchten Schonung und so war es günstig, daß das nächste Marschziel Ruhmannsfelden nur etwa 16 km entfernt war.
Da Dr.Grothe den Haupttreck erwarten wollte, um mit dessen Führern Verschiedenes zu besprechen, bestand das Vorkommando nur aus Frauen unter Führung von Frau Schneider. Wir kamen zusammen mit einem Treck aus Bischwitz, Kreis Ohlau, in der großen Turnhalle dieses netten Marktfleckens unter. Die rührenden Wirtsleute des Oberkretschams (Schenke, Gasthaus; aus dem Sorbischen, üblich in der Oberlausitz und in Schlesien) setzten uns sogar ein leckeres Abendbrot vor. Die Pferde hatten auch gute Quartiere und konnten sich wiedermal, mit oder ohne Genehmigung, wenigstens an Heu sattfressen.
    Als der Treck am Mittwoch (28.3) Früh um 6 Uhr 45 losmarschierte, war der Himmel verhangen und ein feiner Regen -wenig günstig für elegante rote Ledermäntel- ließ uns nicht zum vollen Genuß der herrlichen Abfahrt ins Donautal kommen. Die Landschaft erinnerte sehr an die reizvollen Täler des Thüringer Waldes. Am frühen Nachmittag ging es durchnäßt in der Kreisstadt Deggendorf ins Quartier, wo das Vorkommando inzwischen dank einer gutgeleiteten NSV-Stelle für Feuerung und gutes Essen gesorgt hatte (Hotel 3-Mohren).
    Die nächste Leitstelle Vilshofen legte Wert darauf, daß unser großer Treck das Kreisgebiet Vilshofen möglichst wenig berührte, und so ging in Abänderung des ursprünglichen Marschplanes, der Weg am nächsten Morgen zunächst über die Donaubrücke, dann an einem interessanten, sehr gepflegten Kloster vorbei und bald darauf über die grüne Isar, auf endlich mal wieder ebenen Straßen nach Osterhofen, wo Unterbringung und Verpflegung leider nicht den großzügigen Zusagen des NSV-Leiters entsprachen. Um die Einweisung in den Kreis Pfarrkirchen vorzubereiten, fuhren Dr. Grothe, Frau Schneider und Wüstenhagen durch eine liebliche Hügellandschaft sofort weiter nach Aidenbach, das für für das nächste Quartier vorgesehen war. Da der Bürgermeister in unfreundlicher Form eine Aufnahme des Trecks ablehnte, mußte das Vorkommando noch 5 km weiterfahren, um in Egglham Quartier zu machen. Unvergeßlich die Himmelschlüsselwiesen.
    Am Karfreitag, den 30. März, wieder ein Regentag, fuhr das Vorkommendo sofort zur NSV-Kreisamtsleitung nach Pfarrkirchen, wo ihm mitgeteilt wurde, daß der Treck auf 24 Ortsgruppen aufzuteilen ist ! Der erste Schreck über diese Nachricht verflog bald, da die Einödslage der Bauernhöfe im Kreise Pfarrkirchen keine andere Möglichkeit bot, und auch auf diese Weise eine gute Unterbringung und Verpflegung von Mensch und Tier am ehesten gewährleistet war. Es galt zunächst die Treckspitze unterzubringen, und nach einer Aussprache.mit dem Ortsleiter Suttor bei der freundlichen Frau Weiß in Untertattenbach, wurden für diesen ersten Treckteil die Gemeinden Untertattenbach, Asenham und Mittig als Standquartiere festgelegt. Eine eingehende Besichtigung der Quartiere war in Anbetracht der zerstreuten Lage und der knappen Zeit nicht möglich, doch konnte den Ortsgewaltigen wenigstens eine genaue Aufstellung der unterzubringenden Familien übergeben werden. Bei strömendem Regen und völliger Dunkelheit fand das Vorkommando schließlich ein bescheidenes Unterkommen bei Frau Weiß in Untertattenbach.
    Am Sonnabend (31.3.) Früh ging Frau Schneider nach Birnbach, um die Treckspitze einzuweisen, währen Dr.Grothe zur NSV-Leitung nach Pfarrkirchen fuhr, wo er hörte, daß der Haupttreck im Raume Eichendorf übernachtet hat. Er trifft die Quartiermacher dieses Trecks in Furth, zwischen Zeitlarn und Nöham. Sofort wird die Aufteilung vorgenommen und zwar etwa so, daß 2 Gespanne mit 30 bis 40 Menschen auf je eine Ortsgruppe entfallen. Da es für die meisten Gespanne unmöglich war, das Standquartier noch an diesem Tage zu erreichen, übernachtet der Treck in Nöham und Dietersberg, wo auch die meisten ihre Osterfeiertage verbringen. Schon am ersten Osterfeiertag abends meldet Frau Thomas dem Treckführer, daß die Familien, die in Alt-Zedlisch zurückgeblieben waren, mit der Bahn in Pfarrkirchen eingetroffen sind.
    Die Hoffnung, bei der Abfahrt in Alt-Zedlisch, daß der Treck im Kreise Pfarrkirchen gut unterkommen würde, hat sich erfüllt. Obwohl der Treck zum Teil über 70 km auseinander liegt, kann eine gewisse Fühlungsnahme mit den einzelnen Gespannen und den dazu gehörigen Leuten bestehen bleiben. Daß wir aber diese landschaftlich schöne und landwirtschaftlich so fruchtbare Gegend erreichten, verdanken wir in erster Linie unseren Pferden, die bei völlig unzureichendem Futter (3 kg Hafer und 5 kg Heu), schlechter Unterbringung und mangelhaftem Beschlag, ihr Letztes hergegeben haben.