HANNA STEPHAN
Die Glocke


     Über unserer Stadt läutet — sonnabends zur Vesper und sonntags zu den Gottesdiensten — eine Glocke, die mit ihrem hohen Cis und dem schönen erzenen Klang wohl zu vernehmen ist, wenn man darauf aus ist, sie zu hören. Aber es sind jetzt nicht mehr viele, die, wenn der Sonntag eingeläutet wird, den Kopf heben oder gar das Fenster öffnen oder, wenn der Weg von ihrer Arbeit sie nach Hause führt, stehen bleiben, um zu lauschen und zu sagen: Ja, das ist sie. Und in dem Getön der Sonntagsglocken, die von den drei Kirchtürmen ineinander klingen, geht ihre Stimme fast verloren. Aber sie ist da — sehr hoch, sehr leicht, sehr schwingend, die Glocke der Liebe. Sie hängt noch nicht lange da oben. Am ersten Advent des letzten Jahres wurde sie erst dort oben angebracht. Damals war es ein Fest, das fast alle, die in unserer Stadt noch ein warmes Herz bewahrt hatten, oder eine Frömmigkeit, oder ein Heimweh, eine verborgene Traurigkeit und Liebe, ein überwundenes oder auch nicht überwundenes Schicksal, in der Kirche zusammenführte, in deren Turm sie an diesem Tag zum ersten mal läuten sollte. Zum ersten mal? Zum vieltausendstenmal — denn die Glocke ist sehr alt.
     Viele von denen, die gekommen waren, hatte ihr Heimweh in die Kirche getrieben, denn früher hatte die Glocke über dem Land Schlesien geläutet, und wenn sie diese eine auch noch nie gehört hatten, so war es doch eine Glocke von zuhause. Zuhause, das war ja nicht nur der eine Fleck auf Erden, um den ihre sehnsuchtsvollen Gedanken kreisten. Zuhause, das war und ist der Ort, an dem die Liebe wohnt. Aber viele waren auch nur gekommen, um die beiden Menschen zu ehren, für die es wirklich die Glocke von zuhause war: den alten Herrn, der seit sieben Jahren in unserer Stadt wohnt, der mit seinem grünen Jägerhabit und mit seiner aufrechten alten Gestalt aus unseren Straßen nicht mehr fortzudenken ist, ihn, dessen klares und strenges Gesicht alles verschweigt, was nach Klage aussehen könnte, und alles ausdrückt, was sein schweres Schicksal ihn an Überwindung, Freiheit und Güte gelehrt hat. In seinem früheren Leben mag er ein Grandseigneur gewesen sein, ein Herr über seine Güter, ein Patron seiner Kirche, der, dem die Glocke gehörte wie seinen Vätern und Vorvätern. Jetzt ist er nur noch ein Mensch. Es ist schwer, in dieser Zeit ein Mensch zu sein, ohne Reichtum und Stellung, ohne Macht und Stimme, ganz ohne Gabe und Geltung, so wie sie ihm früher zur Verfügung gestanden hatten: Und doch fühlt auch der Einfachste sich geehrt und beschenkt, der ihm begegnet, so wie ich mich geehrt und beschenkt fühlte, als ich an diesem Tag neben ihm und seiner Tochter inmitten der Gemeinde sitzen durfte, die gekommen war, die Einweihung seiner Glocke zu feiern und sie zum erstenmal — zum vieltausendsten-mal — läuten zu hören.
     Seine Tochter ist jenes Gutsfräulein, das im gefährlich feindlichen Land auf jene menschlichste Art Weihnachten gefeiert hat, als ringsum die Welt ohne Liebe zu sein schien. Obwohl auch sie nicht einen Pfennig ihr eigen nennt, ist es der Kraft ihres liebevollen Herzens gelungen, die Glocke ihrer Heimat, die verschollen war, zu suchen, zu finden und hierherzubringen.
     So geschah es: Man hatte sie eingeladen, sich einen der neuen Filme anzusehen, die versuchen, das verworrene Bild der Gegenwart einzufangen, zu durchleuchten, zu deuten, das Schicksal der Menschen von heute, und also auch das ihre. Der Film war, wie es nicht anders sein kann, gelungen und nicht gelungen, er war so wahr, wie der unverstandene Tag wahr ist, der heute und immer an unseren Augen vorüber gleitet und dem wir ausgeliefert sind. Aber plötzlich, während sie noch im Innern unberührt und nur mit ihrem wachen Interesse dem Spiel zusah, begann ihr Herz zu schlagen. Es hatte viel eher begriffen als sie selber, daß von dem? was eben an ihrem Auge vorüberglitt, ein Anruf an sie ganz allein ergangen war— ihre Liebe brannte schon, ehe sie noch selber wußte, was sie da eben gesehen hatte: Glocken waren das, große und kleine, eine unübersehbare Zahl, die dicht bei dicht auf einem leeren Platz an einem Fluß vor dem düsteren Hintergrund von Ruinen zusammengestellt waren, von Stacheldraht umzäunt und von Verbotstafeln gesichert —
     Glocken, die nicht mehr, wie es doch ihre Bestimmung war, im hohen Gebälk der Türme ihr tönendes, jahrhundertealtes Leben verbrachten, sondern die stumm sein mußten, verschollen, tot. Diese Glocken alle hatten ihre ihnen angestammte Heimat verlassen, waren, von der Hand des allmächtigen Krieges gepackt, in die Zerstreuung gewandert, und zuletzt, da der Krieg zu Ende ging, ehe er auch sie in seinem gierigen Maul zerschmolzen hatte, hier zusammengeschleppt worden, wie Gerümpel, alte Autos, Schrott oder Menschen, wie so vieles, was in den letzten Jahren Sinn und Sein verloren hatte. Das Fräulein sah nicht mehr, was sonst noch in dem Film geschah. Sie hatte einen Auftrag empfangen, den sie in den nächsten Monaten mit sich herumtrug, immer auf der Suche, wie sie ihn erfüllen konnte. Sie kannte keine dieser Glocken, die auf diesem riesigen Friedhof verkamen — und doch —; auch ihr Vater und sie hatten eine Glocke fortgeben müssen, als sie noch auf ihrem großen Gut in Schlesien saßen, die Glocke der kleinen Holzkirche, die seit Jahrhunderten über dem Schicksal des Hofes und des Hauses, ja des ganzen Landes geläutet hatte. Obwohl sie damals versucht hatten, die Glocke vor dem Zugriff des Staates zu retten, der im Krieg nicht Glocken, sondern Kanonen brauchte — und ihr kostbares Erz würde laut genug brüllen, wenn es den Tod und nicht die Liebe verkündete —, war es ihnen nicht gelungen. So alt, so selten, so kostbar und so schön sie war, sie mußten sie eines Tages von ihrem Gestühl herunterholen, auf den großen Milchwagen laden und sie, mit einem Tannenkranz umwunden, den Weg in den Krieg antreten lassen, den sie nur bis zum Güterbahnhof verfolgen konnten, wo der Soldat bereit stand, der sie mit einer Ehrenbezeigung von dem Fräulein entgegennahm. Sie war die erste, die den Hof verlassen mußte; bald folgten die andern, die Hofleute, die Knechte und Mägde, der Herr und das Fräulein. Das Schloß und die Kirche verbrannten, das Land, über dem die Glocke in Glück und Not geläutet hatte, war ein verlorenes Land. Das Fräulein saß, vom Bild des Glockenfriedhofs und von Heimweh erfüllt, an den Abenden über den Bildern ihrer Heimat, sie hatte die Glocke damals, als sie von ihr Abschied nahmen, in vielen schönen Bildern aufgenommen, die sie nun vor sich hinbreitete. Als ob sie wieder, wie damals, mit ihren Fingern das glatte, kühle Glockenerz abtastete, fühlte sie ihre edle Form nach, die große Wölbung, die sich zum Gesang öffnete und die nun verstummt war, die barocken Bogen des Bügels, in denen das Schwingen von Jahrhunderten saß; die kostbare Renaissancekante, mit der der Glockengießer ihren Saum geschmückt hatte, und Buchstaben um Buchstaben und Wort für Wort den lateinischen Spruch, der ihr den Sinn gegeben hatte: „Sit nomen Domini.benedictum ex hoc nunc et usque in Saecula Saeculorum — Der Name des Herrn sei gelobt von nun an bis in Ewigkeit.“ Darunter stand die Zahl 1519 und der Name des Meisters: Sigmund Goetz. Zuletzt ruhte ihre Hand in der kleinen Wunde, die die Glocke an ihrem äußersten Rand davongetragen hatte, als ungeübte Hände sie von ihrem Turm herablassen mußten. Das Bruchstück hatte sie damals verwahrt, aber mit allem andern war es verlorengegangen; es galt nicht mehr als der Splitter einer Bombe oder eines zersprengten Geschosses, das in die Erde getreten war. Dem Fräulein war es klar, daß, was sie wollte, schwer zu erreichen sein würde. „Es kann nicht gelingen,“ sagte ihr Vater, dessen Herz nicht mehr so heftig schlug wie das ihre. „Es muß gelingen,“ sagte sie. Und es gelang. Die Filmgesellschaft verriet ihr, wo sich der Begräbnisplatz der verschollenen Glocken befand; Menschen fanden sich bereit, ihre Pflichten für die Zeit zu übernehmen, die sie fort sein mußte, und Freunde, deren sie viele hatte, luden sie Stück um Stück den Weg entlang ein, der kurz ist für jemand, der die großen Züge benutzen kann, die uns von heute auf morgen hintragen, wohin wir nur wollen, aber weit für jemand, der kaum seine täglichen Sorgen bestehen kann.
     Jedenfalls fand sie sich an einem Regenmorgen vor jenem Stacheldrahtzaun mit seinen Verbotsschildern im Freihafen der großen Stadt und sah die Glocken. Es waren auch jetzt noch unübersehbar viele, kleine und große, ja riesige Glocken, die einen Menschen weit überragten. Sie standen dicht beisammen, so daß sich Saum um Saum fast berührte, dazwischen waren Wege und Straßen, Nummern und Schilder, wie auf einem Friedhof. Sie stand hinter dem Stacheldrahtzaun und zweifelte nun selber, ob unter den vielen Glocken auch die ihre sei, und wenn, ob es ihr wohl je gelingen könnte, sie herauszufinden. Hundertundzehntausend Glocken waren auf diesem Platz einmal beisammengewesen. Sie mußte sich nur das Geläut all dieser Glocken ineinander vorstellen — und ihr Herz und ihre Phantasie waren groß genug, dies zu versuchen —, so zitterte sie wie die Erde bei einem Erdbeben oder wie Engel zittern mögen, wenn die himmlischen Chöre ertönen. Aber von diesen hundertundzehntausend Glocken waren neunzigtausend zu Kanonen umgegossen, und das Entsetzen, das sie packte, wenn sie an ihre veränderten Stimmen und an das Gebrüll von Haß und Tod dachte, das sie über die Welt ausgespien hatten, war unerträglich für sie, die den Krieg so nahe und wirklich miterlebt hatte. Himmel und Hölle und der große Streit ihrer Stimmen umdröhnten sie. Wenn sie die Augen schloß, so daß sie die im Regen glänzenden Leiber der Glocken nicht mehr sah, jagten in wirren, sich überdeckenden Bildern die vergangenen Jahrhunderte vorüber, über denen diese Glocken geläutet hatten, die Kriege und die Landschaften des Friedens, die sie ablösten, die Erntefeste und Hungersnöte, die aufwachsenden und zusammenstürzenden Städte, die festen Mauern und Türme, die nicht mehr waren, Jubelfeste und Begräbnisse,, Tänze und Tod. Und sie sah die Menschen selber, die einmal diesen Glocken gelauscht hatten und die längst von ihnen zu Grabe geläutet waren, die Heiligen und die Verdammten, die Frommen und die Zweifler, die glücklichen Bürger reicher, ewig gleichbleibender Jahrzehnte und die andern, die im Wirbel des Untergangs gelebt hatten. Sie sah, als knieten sie alle zugleich unter dem Glockengeläut, die unzähligen Bräute, die ihr Leben unter den Glocken begonnen hatten, die Kinder, die sie geboren, und die alten Frauen, die sie gleich darauf selber geworden waren, die Heere der jungen Soldaten, die in der Uniform aller Zeiten von den Glocken hinausgeleitet worden waren, um im fremden Feld zu sterben, und die stillgewordenen Gesichter der Alten, die erkannt hatten, daß tausend Jahre wie ein Tag sind und wie eine Nachtwache und daß nur bleibt, was die Glocken läuten: „Sit nomen Domini benedictum ex hoc nunc et usque in
SaeculaSaeculorum.“
     In dem Brausen der Bilder und Glocken, die das Fräulein umrauschten, klang tröstlich diese eine Stimme mit, die Stimme ihrer eigenen Glocke, das hohe Cis, das seit ihrer Kindheit über ihr und in ihr gewesen war. Die Bilder wandelten sich, nun zog sie selber mit den Millionen auf den Fluchtstraßen durch Eis und Schnee — und wenn sie ihn auch tage- und wochenlang vergaß, so war doch dieser Trost in ihr: Sie wanderte gleichsam der Glocke nach, die vor ihr den Weg ins Nichts angetreten hatte, vor ihr hinter diesem Stacheldrahtzaun angekommen war, vor dem sie stand, von Gesichten und Klängen zerrissen, dennoch beruhigt in der Gewißheit, am Ziel zu sein. Es war das Ziel, die nächsten Tage erwiesen es. Wie sie es fertiggebracht hatte, den Stacheldrahtzaun der Bürokratie, der gestrengen und getreuen Beamten dieser und jener Zunge zu überwinden, bleibt. ihr Geheimnis — sie lacht, wenn sie davon spricht, und es wird dies Lachen und zugleich die Inbrunst ihres Willens gewesen sein, mit denen sie Menschen, die sonst nur nach Zahl und Listen lebten, überzeugte, daß es nichts Wichtigeres gab, als ihr zu helfen. Es erwies sich, daß man beschlossen hatte, den Rest der Glocken zu retten, sie nach ihrem Alter und ihrer künstlerischen Bedeutung und, soweit sich das feststellen ließ, auch nach ihren Heimatorten zu ordnen. Und so wurde dem Fräulein das Suchen erleichtert, weil ihre Glocke zu den ältesten gehörte und also unter einer Gruppe ähnlich alter und ähnlich schöner Glocken zu suchen war.
Das Stacheldrahttor öffnete sich vor ihr und schloß sich wieder hinter ihr, sie war allein, allein zwischen den Glocken. Einige überragten sie weit, während sie durch die engen Straßen schritt, andere reichten ihr bis zur Schulter, bis zu den Hüften oder unter die ausgestreckten Hände. Sie glänzten naß im Rieselregen, an den Bügeln hingen die Tropfen wie Perlen oder Tränen, und auch das Gesicht des Fräuleins war naß, das Glück brach aus ihren Augen, denn dort hinten stand eine Gruppe Glocken beieinander, hoch wie siebenjährige Kinder, mit ihren grünbraunen, regenblanken Umhängen und den barocken Hauben einander ähnlich wie Geschwister. So hatte ihre Glocke ausgesehen, sie erkannte sie sofort. Sie kniete schon bei ihnen, wischte den verkrusteten Staub aus den Buchstaben, dem der Regen nichts anhaben konnte, und las und suchte. 1522 — 1527 - 1539 -und immer den Namen: Sigmund Goetz — Sigmund Goetz — Sigmund Goetz.
     Dann sah sie die Wunde, die kleine Bruchstelle am Rand der Glocke, sie bückte sich und legte ihren Finger hinein — sie brauchte die Inschrift nicht zu lesen: Sigmund Goetz 1519 — Sit nomen Domini benedictum ex hoc nunc et usque in Saecula Saecu-lorum.
     Wir müssen sie allein lassen mit ihrer Glocke; was nun geschah, geht sie allein etwas an. Inmitten des Glockenfriedhofs war sie heimgekehrt, hatte sie die Bestätigung ihrer Liebe, ihres Glaubens und ihres Vertrauens gefunden. Die Glocke war wirklich und unwirklich zugleich, eine Realität und ein Zeichen, das Fräulein nahm sie an diesem Tag, der einer aus der vorüberfließenden Ewigkeit war, als solches an. Sie selbst stand zwischen all den Glocken mitten in der Ewigkeit und hatte doch ihre Heimat wiedergefunden,
     Sie finden und zurückgewinnen war zweierlei, erzählte später das Fräulein, es gibt Beamte des Staates und Beamte des lieben Gottes, und beide sind gestrenge Herrn. Aber es gelang, und in unserer Stadt wurde die Leihgabe dieser Glocke, die neben zwei fremden und viel jüngeren Schwestern ins Gestühl der Hauptkirche gehängt werden sollte, mit Freuden angenommen, denn der darüber zu sagen hatte, verstand, welches Zeichen ihm und seiner Gemeinde damit gegeben war. „Usque in Saecula Saeculorum!“ ruft die Glocke und bettet das unverständlich schwere gegenwärtige Schicksal in das Sinnvolle aller Zeiten. Ich sagte schon, welch großes Fest es war, als die Glocke geweiht wurde, ein Fest der Flüchtlinge, aber auch der Einheimischen, denn längst ist der alte Herr, der Patron seiner Glocke, der Stadt eingewachsen, und das Fräulein ist hier zuhause. Auch die Glocke ist es, so sehr, daß man sie fast vergißt. Sie ruft über unserer Wochenvesper und unsern Sonntagen, und für den, der darauf achtet, tut sie immer noch einen Schlag nach, wenn ihre großen und lauteren Schwestern schon stumm geworden sind. Das macht der Kirchendiener, der von solchen Dingen etwas weiß: Er läßt die Glocke ihr besonderes Wort sagen, für den Herrn, der etwa nicht zur Kirche kommen konnte, weil er alt ist, für das Fräulein, das Sonnabendabends im Fenster lehnt und darauf wartet, für uns alle, die wir es nötig haben, solches zu hören. Der Kirchendiener tut es, weil er mehr versteht als andere, und vielleicht auch wegen der Flasche Wein, die das Fräulein ihm geschenkt hat, als Neujahr war.