Das Amtsgericht Namslau



Namslau hatte auch ein Amtsgericht. Als Schlesien preußische Provinz wurde, war es ein Kreisgericht mit einem Kreisgerichtsdirektor. Mit einer neuen Gerichtsordnung wurde aus dem Kreisgerichtsdirektor ein simpler „Aufsichtsführender Richter“. Einer meiner Vorgänger in früher preußischer Zeit war der Kreisgerichtsdirektor Lessing, ein Bruder des durch „Minna von Barnhelm“ und die „Hamburgische Dramaturgie“ berühmten Klassikers. Der Kreisgerichtsdirektor Lessing wurde später Direktor der Breslauer Münze.
Aber es gibt noch einen weiteren Bezug zur preußischen Geschichte: Bei den Grundakten des Amtsgerichts Namslau befand sich die Stiftungsurkunde in der der große Preußenkönig Friedrich seinem Reitergeneral von Seydlitz das Rittergut Minkowsky schenkte« Dort im Schloßpark stand auch das Grabdenkmal des Generals.
Einer meiner Vorgänger aus diesem Jahrhundert war der Geheimrat Nebelunge Er war ein Junggeselle, und es wurde berichtet, daß er jeden Nachmittag nach Bernstadt wanderte, dort seinen Kaffee trank und dann mit der Bahn zurückfuhr.
In meiner Zeit war Eigentümer des Gerichtsgebäudes der Bankprokurist Fiebig. Der Justizfiskus weigerte sich lange Zeit, die Inneneinrichtung mit Einschluß der „Örtlichkeiten“ zu modernisieren, und es bedurfte erst des Besuches eines Staatssekretärs aus Berlin, bis mir die nötigen Mittel zur Verfügung gestellt wurden, um das Gericht in einen einer Behörde angemessenen Zustand zu versetzen. Dabei fand ich Unterstützung bei meinem Landgerichtspräsidenten, der es sich nicht nehmen ließ, jährlich mittels Rundverfügung die Richter seines Bezirks zu bitten, von der Erfindung der Kurzschrift, der Schreibmaschine und des Telefons Kenntnis nehmen zu wollen.
Das Gericht wurde im neuen Gewande durch einen besonderen Festakt eingeweiht, an dem Richter und Rechtsanwälte des Landgerichtsbezirks teilnahmen und Landrat Dankelmann und der Landgerichtspräsident das Wort ergriffen. Im Anschluß an den Festakt unternahmen alle Beteiligten eine Grenzlandfahrt mit von der Post gemieteten, Bussen, wobei wir einen Blick auf das von Namslau nach dem ersten Weltkrieg abgetrennte Reichthaler Ländchen warfen. Die Teilung Deutschlands hat bereits damals eingesetzt. Nach Besichtigung der Brauerei Haselbach traf sieh die ganze Justiz zu einem Umtrunk und Tänzchen im Braustübel.
Überhaupt ging es in jenen Jahren recht fröhlich zu. Mit den zahlreichen Referendaren, die sieh damals zur Ableistung ihrer ersten Ausbildungsstation nach Namslau meldeten, veranstalteten wir im Winter Schlittenpartien und im Sommer Wanderungen und kleine Tanzereien Einmal fragte mich der zur Besichtigung kommende Oberlandesgerichtspräsident, wie es komme, daß sieh plötzlich so viele Referendare nach Namslau meldeten, obgleich in der Vergangenheit kaum ein Referendar beim Amtsgericht Namslau zu finden war. Wir hatten jedenfalls manchen Spaß mit den jungen Leuten, vor allem wenn sie dem braven Justizobersekretär Schiffner in der ersten Ausbildungsstufe überwiesen wurden, der sie in seiner humorvollen Art manchmal auf den Arm zu nehmen wußte.
Beim Amtsgericht Namslau gab es auch einen Dolmetscher-Oberinspektor für Gerichtseingesessene, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren. Ich kann mich kaum erinnern, daß wir auf seine Funktion als Dolmetscher vom Polnischen ins Deutsche zurückgreifen mußten. Er kam höchstens zum Zuge, wenn polnische Deserteure, die über die „grüne Grenze“ gekommen waren, wegen unerlaubten Grenzübergangs vor Gericht standen. Im übrigen sollte um der geschichtlichen Wahrheit willen auch hier vermerkt werden, daß auch solche Bewohner des Kreises Namslau , die möglicherweise zu Hause sich gelegentlich der sog. wasser-polnischen Sprache bedienten, brave und zuverlässige waren. Es kann nicht oft genug betont werden, daß Schlesien niemals den Polen vom preußischen Staat weggenommen worden ist. Seit der Zeit Karls IV, der als Luxemburger die Krone des abendländischen Reiches trug, gehörte Schlesien zur Krone Böhmens. Mit der Krone Böhmens ging Schlesien im Erbgang auf die Habsburger über, die es an den Preußenkönig Friedrich II. verloren.
Vor dem Amtsgericht Namslau, dem die Wahrung der Rechtsordnung der Kreisbewohner anvertraut war, haben sich keine aufregenden Prozesse abgespielt. Es gab einmal einen Mordfall. Eine Frauenleiche wurde in einem Kornfeld gefundenen. Jedoch waren Täter und Opfer in Breslau ansässig® Der Fall hätte sich gut als Fernsehkrimi geeignet. Der Mörder wurde ermittelt und entzog sich der irdischen Gerechtigkeit, indem er sich in der Gefängniszelle erhängte.
War die Arbeit des Tages im Gericht abgeschlossen, zogen Richter und Gerichtsassessoren oft zu „Zurawski“ zu einem Abendschoppen.
In der Regel war das Amtsgericht mit drei Richtern besetzt. Gleichfalls in der Regel waren drei Anwälte beim Amtsgericht zugelassen. Bei dieser Gelegenheit sei eines Mannes gedacht, der hin und wieder das Gericht beschäftigte. Wer erinnert sich noch an den Marschall Fredel, den die gewissenhafte Polizei manches Mal wegen Bettelns vor den Kadi brachte. Es gelang schließlich, mit der Polizei ein stilles Abkommen zu schließen. Da der Marschall Fredel ein harmloses Wesen war, der niemandem ein Leid zufügte, ließ man ihn gewähren. Polizei und Gericht drückten beide Augen zu. - Wie lange liegt das alles zurück!
Wer mag von der Namslauer Justiz noch am Leben sein? Zumindesten noch die zahlreichen Referendare, die ich ausgebildet habe, darunter an erster Steile der Vorsitzende der Namslauer Heimatfreunde, der Ministerialrat Dussa (inzwischen leider auch nicht mehr unter uns).
Vor einigen Jahren saßen drei Namslauer im gastlichen Haus von Herrn Dussa: Der Hausherr, Frau Beck geb. Kupzok und meine Wenigkeit. Wir stellten zu unserer Freude fest, daß uns eine gemeinsame Erinnerung zusammengeführt hatte, das Amtsgericht Namslau.

Oberlandesgerichtsrat Dr.Karl Oelsner einst Aufsichtsführender Richter des Amtsgerichtes Namslau.

Namslauer Heimatruf Nr63/März 1973